Anschlag auf Späti-Besitzer

Betroffener war offenbar politisch aktiver kurdischer Syrer - Was war das Motiv?

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 3 Min.

Erschütternde Szenen haben sich in der Nacht zu Mittwoch in einem Spätkauf in der Goethestraße in Charlottenburg zugetragen. »nd« liegt ein Video vor, das die Geschehnisse dokumentiert: Nezar M., der 35-jährige Inhaber des Ladens, gibt der ausländischen Sendung »Roj« ein Live-Interview. Er spricht in ein Mikrofon, das an seinen Laptop angeschlossen ist. Es geht in dem Gespräch um den Konflikt in den kurdischen Gebieten, die angespannte Lage in Syrien und der Türkei. Der syrische Kurde M. spricht mehrere Minuten angeregt über das Thema, bekommt immer wieder Zwischenfragen von dem Journalisten gestellt. Auch die Rolle der syrisch-kurdischen Volksverteidigungsmiliz YPG wird diskutiert.

Plötzlich blickt M. zur Seite, die Kamera wackelt. Man hört eine deutsche Stimme »Yalla, jetzt« sagen. Dann ertönt unvermittelt ein Schuss aus nächster Nähe. M. fällt zu Boden und schreit vor Schmerzen. Der Interviewer fragt hilflos, was passiert ist - sein Gesprächspartner ist verstummt. Man sieht Blutflecken im Video. Die Angreifer flüchten - offenbar, ohne Wertsachen mitzunehmen.

Was ist der Hintergrund dieser Attacke? Handelte es sich womöglich um eine politisch motivierte Tat, begangen etwa von türkisch-faschistischen »Grauen Wölfen«, deutschen Neonazis oder IS-Sympathisanten in Berlin? Alle diese Gruppen haben zumindest einen Groll gegen die eher linken Kurden im nordsyrischen Rojava.

Die Berliner Polizei erklärte noch am Mittwochabend in einer Pressemitteilung, dass der Mann eine »lebensgefährliche Schussverletzung« erlitten habe. Bisherigen Ermittlungen zufolge sollen zwei Unbekannte kurz vor Mitternacht das Geschäft betreten und den 35-Jährigen niedergeschossen haben. Der Schwerverletzte sei mit einem Notarzt ins Krankenhaus gefahren, wo er sofort operiert werden musste. Mittlerweile sei sein Zustand stabil.

Laut Polizei seien die Hintergründe der Tat derzeit »noch unklar«. Die Ermittlungen haben die Staatsanwaltschaft Berlin und die Mordkommission des Landeskriminalamtes übernommen. Am Donnerstag konnten weder die Berliner Polizei noch die Staatsanwaltschaft gegenüber »nd« weitere Auskünfte erteilen. Man ermittele in alle Richtungen, hieß es von einem Sprecher.

Medienberichten zufolge kann ein politischer Hintergrund nicht ausgeschlossen werden. Nach Recherchen der »Berliner Zeitung« soll das Anschlagsopfer bis zum Jahr 2009 kurdische Kämpfer in Syrien militärisch ausgebildet haben. Auf welchen Erkenntnissen diese Aussage basiert, ist jedoch unklar. Lange Zeit habe sich M. darüber hinaus im Internet politisch engagiert, vor allem für die Kurdenfrage. Auch Personen aus dem Umfeld des Betroffenen vermuteten eine »politisch motivierte Tat«, so die »Berliner Zeitung« weiter.

Inwiefern das Anschlagsopfer Nezar M. in Exilstrukturen syrischer Kurden in Berlin engagiert war, ist unklar. Die deutsche Vertretung Nord- und Ostsyriens in Berlin konnte am Donnerstag von »nd« für ein Statement nicht erreicht werden.

Die Kurdische Gemeinde Deutschlands zeigte sich schockiert über den Vorfall. »Wir sind entsetzt und erschüttert über diesen schrecklichen Mordanschlag auf Nezar M. in Berlin und verurteilen dieses Verbrechen zutiefst«, erklärte Ali Ertan Toprak, Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschlands, am Donnerstag. In Deutschland sollte jeder seine Meinung äußern können, ohne Angst um sein Leben haben zu müssen. Die Kurdische Gemeinde sei erleichtert darüber, dass Nezar M. den Anschlag überlebt hat. Man sei mit den Gedanken bei der Familie des Opfers. Gegenüber den Behörden mahnte Tobrak gründliche Ermittlungen an: »Wir hoffen auf eine schnelle und umfassende Aufklärung dieser abscheulichen Tat durch die Berliner Polizei.«

Im Zuge der völkerrechtswidrigen Eroberung des nordsyrischen Kantons Afrin durch die Türkei im Frühjahr 2018 kam es zu zahlreichen Demonstrationen in deutschen Städten. Auch in Berlin hatten kurdische Verbände, türkische Oppositionelle und Linke Tausende mobilisiert. Während der Proteste gab es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen den Demonstrierenden und türkischen Rechten. Ob auch Nezar M. ein Opfer dieses Konflikts ist, wird sich zeigen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.