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Johnson will schlummernden Riesen wecken
Großbritanniens künftiger Premier hat mit großen Widerständen in eigenen Reihen zu kämpfen
Boris Johnson ist an seinem Lebensziel angekommen: Er dürfte am Mittwoch nach einem Besuch im Buckingham Palace zum britischen Premierminister ernannt werden. Der ehemalige Anführer der Pro-Brexit-Kampagne, Bürgermeister von London und Außenminister hat die Briefwahl der Tories zum Parteichef erwartungsgemäß gewonnen. Ein Umstand, an dem sich viele Briten stören. Denn die Abstimmung erfolgte lediglich unter den rund 160 000 Mitgliedern der konservativen Partei. Sie waren dazu aufgerufen, sich nach einer Vorauswahl innerhalb der konservativen Fraktion zwischen Boris Johnson und Außenminister Jeremy Hunt zu entscheiden. Die Wahlbeteiligung lag bei 87,4 Prozent. Johnson gewann mit fast zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen.
Nach der Bekanntgabe des Ergebnisses nahm Johnson in einer kurzen Rede das Ergebnis an. Sie fiel charakteristisch flapsig aus: Johnson scherzte, dass sich manche seiner eigenen Unterstützer jetzt wohl fragen dürften, »was sie da getan haben«. Dann tat er das, was er am besten kann: Er verfiel ins Abstrakte: Johnson sprach darüber, wie die konservative Partei in den vergangenen 200 Jahren »die besten Einblicke in die menschliche Natur« gewonnen habe und daher immer grundlegende Wünsche wie den nach einem Eigenheim unterstützt habe. Seine Aufgabe werde es jetzt sein, den »Wunsch nach einer engen Beziehung zur EU« mit dem »Wunsch nach demokratischer Selbstverwaltung« zu vereinen, sagte Johnson dann. Großbritannien sei »wie ein schlummernder Riese« und müsse jetzt erwachen und seine Selbstzweifel ablegen.
Es war eine typische Johnson-Rede: Reich an Bildern und voll von Pathos, dabei aber weitgehend inhaltsleer. Die Rede war zwar nur als kurze Dankesrede gedacht und nicht als Ansprache an das Volk. Die wird am Mittwochnachmittag erwartet. Für jemanden, der seit Wochen davon ausgehen konnte, dass er Premierminister werden würde, war es dennoch erstaunlich, wie wenig er zu sagen hatte. Johnson erwähnte mit keinem Wort, welche Brexit-Strategie er verfolgen möchte. Er ging auch nicht auf die 48 Prozent der Briten ein, die vor drei Jahren für einen Verbleib in der EU gestimmt hatten.
Johnson ließ bei seiner Rede auch seine parteiinternen Gegner unerwähnt. Dabei wächst deren Zahl beständig. Erst am Dienstag trat eine weitere konservative Politikerin aus Protest gegen die Wahl Johnsons zum Parteichef von ihrem Regierungsposten zurück. Anne Milton, Staatsministerin im Bildungsministerium, erklärte, dass sie ihren Rücktritt eingereicht habe. Als Grund dafür nannte sie »ernste Bedenken« hinsichtlich Johnsons Unterstützung für einen No-Deal-Brexit.
Am Montag war bereits Alan Duncan, Staatsminister für Europa und Amerika im Außenministerium, von seinem Posten zurückgetreten. Dabei startete er auch gleich einen Umsturzversuch: Duncan machte sich für eine Abstimmung im Unterhaus stark, die klären sollte, ob das Parlament den neuen Premier unterstützt. Das wäre einem präventiven Misstrauensvotum gleichgekommen. Der »Speaker« des Unterhauses, John Bercow, lehnte dieses Gesuch allerdings ab.
Erst am Sonntag haben auch Schatzkanzler Philip Hammond und Justizminister David Gauke ihre Rücktritte für den Fall in Aussicht gestellt, dass Johnson Premier werden würde. Die beiden beabsichtigen, ihre Ämter am Mittwoch niederzulegen. Auch Entwicklungsminister Rory Stewart erklärte am Montag, dass er zurücktreten werde, falls Johnson Großbritanniens neuer Premierminister wird. Weitere Rücktritte könnten folgen.
In seinem Rücktrittsschreiben äußerte Staatsminister Duncan sein Bedauern über den Brexit-Prozess. »Es ist tragisch, dass wir genau dann, wenn wir die dominierende intellektuelle und politische Kraft in Europa hätten sein können, jeden Arbeitstag unter der dunklen Wolke des Brexit verbringen müssen.«
Duncan und Johnson hatten offenbar schon häufiger Meinungsverschiedenheiten, als Johnson noch Außenminister war. Kürzlich kritisierte Duncan seinen ehemaligen Chef scharf, nachdem sich Johnson geweigert hatte, sich hinter den britischen Botschafter in Washington, Kim Darroch, zu stellen. Das Boulevardblatt »Mail on Sunday« hat Anfang Juli geheime diplomatische Korrespondenzen Darrochs veröffentlicht, in denen dieser US-Präsident Donald Trump scharf kritisierte. Trump ging daraufhin in die Offensive und erklärte, dass sich das Weiße Haus fortan weigern werde, mit Darroch zusammenzuarbeiten. Als Johnson Darroch in einer TV-Debatte seine Unterstützung versagte, trat dieser von seinem Posten zurück. Kritiker warfen Johnson daraufhin Feigheit und Prinzipienlosigkeit vor.
Mehrere weitere hochrangige konservative Politiker stimmten sich Berichten zufolge derzeit darüber ab, wie sie auf Boris Johnsons wahrscheinliche Ernennung zum Premierminister reagieren werden. Die moderaten »Rebellen« bei den Tories lehnen Johnsons Vorhaben ab, Großbritannien am kommenden Brexit-Termin, dem 31. Oktober, aus der EU zu führen, ganz gleich, ob sich London bis dahin mit Brüssel auf ein Brexit-Abkommen verständigt hat oder nicht.
Wie viel Gegenwind Johnson aus den eigenen Reihen entgegenschlagen könnte, zeigte sich am vergangenen Donnerstag. Da stimmte das Unterhaus mit einer überraschend deutlichen Mehrheit von 41 Stimmen dafür, einen möglichen Versuch der Regierung zu verhindern, durch eine Suspendierung des Parlaments einen No-Deal-Brexit gegen den Willen der Abgeordneten durchzudrücken. 17 konservative Abgeordnete schlugen sich dabei auf die Seite der Opposition, 30 enthielten sich. Das waren überraschend viele Abweichler. Dass diese Möglichkeit überhaupt ernsthaft diskutiert wird, verdeutlicht, auf was für eine gewaltige Verfassungskrise das Land unter Umständen zusteuert.
Philipp Hammond, der ausgehende Schatzkanzler, sprach dabei eine unumwundene Warnung an die kommende Regierung aus. »Wenn die aufrichtig ein Abkommen anstreben, dann haben sie meine volle Unterstützung. Falls nicht, dann werde ich ›No Deal‹ jeden Zentimeter des Weges bekämpfen.« Ein weiterer Rebell, Philip Lee, bezweifelte, ob Johnson überhaupt in der Lage sein werde, zu regieren. »Ich sehe nicht, wie er eine Mehrheit haben soll. Es ist eine sehr, sehr fragile Situation mit einer nur winzigen Mehrheit.« In der Tat wird Johnson vor demselben Problem stehen, mit dem auch May seit den verpatzten vorgezogenen Neuwahlen von 2017 zu kämpfen hatte: Die Tories haben im Unterhaus keine eigene Mehrheit und sind auf die zehn Abgeordneten der Democratic Unionist Party (DUP) angewiesen, einer kontroversen Regionalpartei aus Nordirland.
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