Boykottierte Mündigkeit

Boykottaufrufe gegen Amazon und Co. bringen nichts, meint Roberto De Lapuente. Die Politik müsse diesen Konzernen in die Schranken weisen.

  • Roberto De Lapuente
  • Lesedauer: 4 Min.

Karl Lauterbach empfiehlt den Boykott. Weil Bentley glaubt, Luxuswagen hätten in der Zukunft (und das trotz Klimawandel) gute Chancen, das städtische Straßenbild zu prägen, legte der SPD-Politiker den Verbrauchern via Twitter neulich nahe, Produkte des Autobauers zu boykottieren. Das hat gesessen, denn mit ziemlicher Sicherheit hat kaum einer seiner Follower seither einen Schlitten bei der Nobelmarke bestellt. Auch ich habe meine Kaufentscheidung überdacht, fahre auch weiterhin lieber mit dem öffentlichen Nahverkehr und kaufe mir dann doch keinen Flying Spur. Lauterbach beweist somit: Boykottaufrufe funktionieren.

Nun ja, das tun sie bloß, wenn man einem finanziell nicht grenzenlos potenten Publikum vom Kauf eines Produktes abrät, welches sich dieses ohnehin nicht leisten kann. Ansonsten scheint der Boykottaufruf ein Akt der Hilflosigkeit zu sein, der resignative Aufschrei einer Kundschaft, die sich sonst nicht zu helfen weiß und auch keinerlei Hilfe seitens der Politik erwarten kann. Überdies verlagern solche Aufrufe die Verantwortlichkeit, denn nicht das kollektive Bewusstsein »des Kunden« ist das zentrale Entscheidungsgremium: Die Steuer- und Wirtschaftspolitik ist eigentlich verantwortlich.

Erst kürzlich erklärte jemand bei Facebook, dass er bei Amazon bestellt habe. Natürlich erntete er dafür Kritik. Dass ausgerechnet er dort Kunde sei, wollten viele seiner Netzwerkspezies nicht verstehen. Mensch, mittlerweile wisse doch jeder Dussel, dass Amazon kaum Steuern bezahle, so die Kritik. Außerdem würden die ihren Mitarbeitern schwer zusetzen. Diese Einwände stimmen natürlich. Nur ist dafür nicht in erster Linie Amazon verantwortlich: Das Unternehmen nutzt bloß die Lücken, die ihr die Politik großzügig gewährt. Ja, die sie für solche Unternehmen geradezu eingerichtet hat.

Dass Unternehmen diese prekäre Situation ausnutzen, kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Es wäre aus ihrer Sicht geradezu fahrlässig, das nicht zu tun. Das mag freilich nicht moralisch sein, aber gerade die Boykottaufrufer wissen doch genau: Der Markt ist nicht moralisch. Wenn er sich selbst überlassen wird, entwickelt er sich zu einem amoralischen Milieu. Diese Unternehmerlogik durchbricht man nicht, indem man einen Boykott inszeniert, der dem beschuldigten Konzerne auf die ethische Spur führen soll. Das ist ein zwar nachvollziehbares, aber nicht weiter relevantes Wunschdenken.

Nicht Amazon ist das Problem: Es sind die potenziellen Entscheider, die nichts entscheiden wollen, um die Missstände zu ändern, die auf die Anklagebank gehören. Jene Politiker, die sich taub stellen und zugucken, wenn Konzerne Milliardenumsätze einfahren, ohne sich voll umfänglich am Steueraufkommen beteiligen zu wollen. Dass die sich mittels Offshoring aus der Affäre stehlen können, ist gemeinhin ja nicht illegal. Man lässt das zu, hält still und tut so, als sei die Politik nur der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt.

Es geht im Grunde um die Frage, wer das Primat innehat: Die Wirtschaft oder die Politik? Indem man den Kundenboykott zum probaten Mittel definiert, stützt man die vermeintliche Erkenntnis, dass die Politik da aus dem Rennen ist. Getreu dem Motto: »Hilf dir selbst, dann hilft dir der Markt.« An sich eine fatale Botschaft, denn Regulierung braucht eine Instanz, die die Mittel hat, die unbändigen Fliehkräfte des Marktes zusammenzuhalten. Das kann nur der Staat, das heißt eine Politik, die die Spielräume für die Wirtschaft nach den Kriterien des Gemeinsinns einrichtet und sich nicht zum Spielraum für Wirtschaftsinteressen degradieren lässt.

Lange Zeit haben die neoliberalen Reformer im Lande von der Eigenverantwortung als neue Tugend salbadert. Der Staat sollte sich möglichst aus der Verantwortung stehlen, jeder sollte der Schmied seines eigenen Glückes sein. Mit dem Kundenboykott scheint diese Haltung im Alltag angekommen zu sein. Das Kaufverhalten soll jetzt richten, was der Staat verbockt. Man boykottiert nicht mal die Politik, greift sie nicht an, mahnt sie nicht ab, sondern tut so, als habe sie nichts mit der Sache zu tun. Kurz gesagt: Man boykottiert die eigene politische Mündigkeit und glaubt, der aufgeklärte Kunde sei quasi der Staatsbürger der Stunde. Was man dieser Tage tatsächlichen boykottieren müsste, dass wäre diese selbstverschuldete Unmündigkeit eines Teils des Souveräns, der sich selbst nur noch als Kunde wahrnimmt.

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