Goodbye Kaschmir

Das Ende der Autonomie verschärft die Spannungen in der Region

  • Natalie Mayroth
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Wochenende wurden Terrorwarnungen für den indischen Teil Kaschmirs ausgesprochen. Pilger mussten ihre Reise abbrechen, weitere Soldaten wurden in die Krisenregion im Himalayatal entsandt. Dass es sich bei dieser Aktion um einen Vorwand der indischen Regierung handelte, wurde erst klar, als Innenminister Amit Shah verkündete, die Sonderstellung des Bundesstaates Jammu und Kaschmir (J&K) zu streichen. Das Vorhaben der hindunationalistischen Regierungspartei BJP wurde mittlerweile im Ober- und Unterhaus des indischen Parlaments bestätigt.

Die Artikel 370 und 35A der indischen Verfassung gewährten J&K eine eigene Verfassung und damit weitgehende Autonomie. Vorgesehen ist nun, den Bundesstaat auf ein Unionsgebiet herabzustufen, das der Regierung in Delhi unterstellt ist.

Grund, die Fremdbestimmung zu feiern, hatten die Kaschmiris nicht. Die Straßen blieben menschenleer. Durch eine Ausgangssperre wurden sie vom Protestieren abgehalten. Der nördlichste Bundesstaat Indiens ist der einzige von 29 mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung. Das missfiel hinduistischen Hardlinern, die ihre politische Macht gerade auskosten, schon lange. So lösten sie ein altes Versprechen ein, mit dem sie die hinduistische Mehrheit im Land befriedigen. Dabei war der Sonderstatus Kaschmirs die Bedingung, dass sich das damals unabhängige Gebiet im Oktober 1947 Indien anschloss.

Der vermeintliche Coup der indischen Regierung wurde mit einer Kommunikationssperre in Kaschmir eingeleitet. Internet- und Telefonverbindungen sind seitdem nicht erreichbar (Stand Redaktionsschluss). Die Regierung begegnet jeglichen Unabhängigkeitsbestrebungen mit Härte. »Einfache Menschen sind in ihren Häusern eingesperrt«, sagt der Kaschmiri Jann Nissar Lone. »Wenn die Inder nicht an Demokratie glauben, warum sollten die Kaschmiris dann daran glauben«, beklagt er. Zu seiner Familie hat der Musiker, der in Mumbai lebt, derzeit keinen Kontakt.

Politiker*innen, die ein säkulares Indien unterstützten, seien dafür festgenommen worden, sagt Lone. Darunter ist die ehemalige Regierungschefin Kaschmirs, Mehbooba Mufti. »Heute ist der dunkelste Tag in der indischen Demokratie«, schrieb sie am Montag auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Durch die einseitige Entscheidung der indischen Regierung mache sie sich zu einer Besatzungsmacht. Seit diesem Tag steht sie unter Hausarrest, wie das Nachrichtenportal »Livemint« berichtete.

Innenminister Amit Shah begründete die Aufhebung von Artikel 370 damit, dieser hemme die Entwicklung der Region. Doch der Entwicklungsökonom Jean Drèze entlarvt die Behauptung: »Im Vergleich zu den meisten indischen Staaten hat J&K eine relativ prosperierende Wirtschaft und gute soziale Indikatoren.« Ein Grund für die niedrige Armutsquote sei, dass dort in den 1950er und 1970er Jahren radikale Landreformen durchgeführt wurden. »Diese Reformen wurden durch Artikel 370 ermöglicht«, so Drèze.

In den indischen Medien fielen die Reaktionen unterschiedlich aus. In der lokalsprachigen Presse sehr positiv, in den englischsprachigen neutral bis kritisch. Die Bundesregierung mahnte Anfang der Woche einen Dialog mit der Bevölkerung an. Die UN äußerten sich dagegen besorgt, »dass die jüngsten Einschränkungen im von Indien verwalteten Kaschmir die Menschenrechtssituation in der Region verschärfen werden«.

Pakistan hat die diplomatischen Beziehungen zum Nachbarland bereits abgebrochen. Premier Imran Kahn kündigte an, vor die UN und den Internationalen Gerichtshof zu ziehen. China, das selbst Anspruch auf einen kleinen Teil Kaschmirs erhebt, kritisiert Indien ebenfalls. Nun besteht die Gefahr, dass terroristische Gruppierungen erneut Zulauf von enttäuschten Kaschmiris bekommen.

Bereits seit Anfang des Jahres verschlechterten sich nach einem Selbstmordanschlag im indischen Teil Kaschmirs die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan drastisch. Seitdem war immer wieder von Toten in der Grenzregion zu lesen. Bei den Parlamentswahlen fiel die Wahlbeteiligung auf ein Tief. Die Lokalwahlen wurden bereits zum zweiten Mal verschoben. Menschen wie Lone hoffen nun, zumindest bald wieder von ihren Angehörigen zu hören. Und auf eine friedliche Zeit während des anstehenden Islamischen Opferfestes.

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