Europäisches Parlament: Wer mit wem?

In der EU-Volksvertretung läuft die Mehrheitsbildung auf zwei Lager hinaus. Die Rechte bleibt außen vor.

  • Jürgen Klute
  • Lesedauer: 9 Min.

Die Europäische Volkspartei EVP (CDU, etc.) stellt mit 182 Mitgliedern (MdEP) die größte Fraktion im neuen Europäischen Parlament. Mit einigem Abstand folgt die S&D (Sozialdemokraten) mit 152 MdEP. Drittgrößte Fraktion mit 108 MdEP ist die liberale Renew Europe (RE), ihr folgen die Grünen/EFA mit 74 MdEP. Die rechtsradikale bis faschistische ID (Identität und Demokratie, mit dem französischen RN, der italienischen Lega, dem belgischen Vlaams Belang, der deutschen AfD, der österreichischen FPÖ, etc.) folgt unmittelbar mit 73 MdEP. Etwas kleiner ist die EKR (Tories, PiS, etc.) mit 62 MdEP. Als kleinste Fraktion des EP folgt mit 41 MdEP die GUE/NGL (DIE LINKE etc.). Die alte Fraktion von Nigle Farage, die EFDD, existiert nicht mehr, da sie die Kriterien einer EP-Fraktion nicht mehr erfüllt. Die Mitglieder der Brexit-Partei und ein Großteil der mittlerweile weit nach rechts geschwenkten italienischen 5-Sterne-Bewegung, die ebenfalls weitgehend der EFDD angehörten, haben sich keiner der bestehenden Fraktionen angeschlossen und zählen nun zu den 54 fraktionslosen MdEP (NI).

Damit zählt das EP derzeit 746 Mitglieder statt der gesetzlich vorgesehenen 751. Die Gründe dafür sind folgende: Die drei gewählten dissidenten katalanischen MdEP Toni Comín, Oriol Junqueras und Carles Puigdemont werden vom spanischen Staat nicht anerkannt und deshalb dem EP nicht als gewählte MdEP gemeldet; der portugiesische MdEP André Jorge Dionísio Bradford ist im Juli kurz nach der Konstituierung des EP verstorben; der dänische MdEP Jeppe Kofod wurde zwischenzeitlich zum dänischen Außenminister ernannt und darf laut MdEP-Statuten deshalb sein Parlamentsmandat nicht ausüben. In den beiden letztgenannten Fällen erfolgen im Herbst Nachbesetzungen. Wie der Konflikt um die dissidenten katalanischen MdEP weitergeht, ist hingegen offen.

Der Autor

Jürgen Klute ist Theologe und Europapolitiker. Von 2009 bis 2014 war er Mitglied des EU-Parlaments (Delegation DIE LINKE). Jürgen Klute betreibt die Internetseite europa.blog. Er publiziert insbesondere zu Themen wie linke Kräfte in Europa und zur Rechtsentwicklung in der EU.

Der dokumentierte Text ist ungekürzt auf der Plattform die-zukunft.eu erschienen.

EU als »Gremien-Demokratie«

In der Wahlperiode 2014 bis 2019 hatten die beiden großen Fraktionen EVP (221 Sitze) und S&D (191 Sitze) zusammen 412 Sitze im Europaparlament. Das war eine recht komfortable Mehrheit, obgleich man das Modell der Berliner Großen Koalition nur sehr bedingt auf das EP übertragen kann, wie es viele Medien in der Bundesrepublik gerne machen. Denn in den EP-Fraktionen sind Parteien aus Ländern mit teils sehr unterschiedlichen und manchmal auch gegenläufigen Interessen und politischem Selbstverständnis versammelt. Davon abgesehen entspricht die EU nicht der politischen Struktur der Bundesrepublik mit einer aus der Parlamentsmehrheit gewählten Regierung. Die EU lässt sich eher als Gremien-Demokratie beschreiben, in der es eben keine Regierung gibt, sondern drei Institutionen: Parlament, Rat und Kommission, die sich von Gesetzgebung zu Gesetzgebung zunächst intern und dann untereinander neu auf Mehrheiten verständigen müssen.

Im Prozess der internen Mehrheitsbildung des EP ist es natürlich einfacher, wenn sich »nur« die beiden großen Fraktionen auf Kompromisse einigen müssen. Im neuen EP wird dieser Prozess also komplizierter sein als in der letzten Legislaturperiode. Denn EVP und S&D kommen zusammen derzeit nur noch auf 334 Sitze. Bei den aktuell 746 Sitzen fehlen dann 40 Stimmen für die einfache Mehrheit von 374 Stimmen. Das heißt, EVP und S&D bräuchten rechnerisch wenigsten eine der anderen Fraktionen für eine Mehrheitsbildung.

Suche nach neuen Mehrheiten

Eine naheliegende Kombination wäre die von EVP, S&D und RE. Die drei Fraktionen haben einige politische Schnittmengen und kämen zusammen auf 442 Stimmen. Eine dauerhafte Verbindung dürften diese drei Fraktionen aber wohl kaum eingehen. Ein erheblicher Teil der EVP teilt die europapolitischen Vorstellungen von Macron und der von ihm stark beeinflussten RE-Fraktion nicht. Da es im EP keinen Fraktionszwang gibt, wird man bei allen Fragen einer vertieften Integration der EU bzw. der Euroländer wohl kaum die ungarischen Mitglieder und ebenso wenig die deutschen Mitglieder der EVP ins gemeinsame Boot einer solchen Dreiergruppe holen können.

Eine Kooperation dieser drei Fraktionen dürfte also vor allem bei eher pragmatisch-politischen Entscheidungen im Bereich Wirtschafts- und Handelspolitik realistisch sein. Angesichts des fehlenden Fraktionszwanges wäre eine solche Konstellation schnell auf Stimmen der Grünen/EFA angewiesen. Vor dem Hintergrund der handelspolitischen und vor allem der ökologischen Positionen der Grünen/EFA und der daraus resultierenden Erwartungen an die Grünen/EFA seitens ihrer klimapolitisch bewegten Wählerschaft sind die Grenzen politischer Schnittmengen vor allem mit der EVP schnell erreicht.

Linksliberale Koalitionen?

Denkbar ist auch eine linksliberale Mehrheitsbildung. Deren Kern würden die S&D, die RE und die Grünen/EFA bilden. Alle drei Fraktionen stehen für eine Weiterentwicklung der EU und grundsätzlich auch für eine Klimaschutzpolitik. Und zumindest der S&D und den Grünen/EFA ist an einer sozialpolitischen Stärkung der EU gelegen, ohne die die Zukunft der EU ernsthaft gefährdet ist. Diese Konstellation käme - ebenso wie die EVP/S&D-Konstellation - auf 334 Sitze, wäre also auch für eine einfache Mehrheit auf mindestens weitere 40 Stimmen aus den anderen Fraktionen angewiesen.

Linke als Zünglein an der Waage

Da die GUE/NGL derzeit 41 Sitze hat, könnte die linke Fraktion die Stimmen für eine einfache Mehrheit beisteuern. Politisch-inhaltliche Schnittmengen gäbe es zumindest im Bereich der Sozial-, Arbeitnehmer*innen-, Klima-, Verbraucher*innen- und Menschenrechtspolitik. Im Bereich der Handels- und der Wirtschaftspolitik dürften allerdings die Differenzen deutlich überwiegen. Da es innerhalb der GUE/NGL auch ausgesprochen EU-kritische Delegationen gibt, dürfte es bei Fragen einer politischen Vertiefung der EU ebenfalls schwierig werden. Zugleich spielen immer auch machtstrategische Gesichtspunkte eine Rolle. Daher scheint es eher unwahrscheinlich, dass sich die GUE/NGL geschlossen auf eine dauerhafte Kooperation mit S&D, RE und Grünen/EFA einlässt. Das schließt aber eine punktuelle Zusammenarbeit nicht aus.

Grundsätzlich könnte die GUE/NGL also Zünglein an der Wage sein, wenn es um einfache Mehrheiten geht. Damit hat sie die Option, die sozialpolitische Entwicklung der EU ein Stück voranzubringen. Das Problem dabei sind weniger diesbezügliche programmatische Differenzen mit den anderen Fraktionen - abgesehen vielleicht von der RE-Fraktion. Um diese Option zu nutzen - und damit den Wert einer linken Fraktion im EP deutlich und sichtbar zu machen -, käme es vor allem auf das Verhandlungsgeschick der linken Fraktion an. Hier öffnen sich also auch Chancen im neuen EP, trotz oder gerade aufgrund des moderaten Rechtsrucks infolge der Europawahlen vom Mai 2019.

Macrons Schachzüge

Im Falle qualifizierter Mehrheiten sind allerdings breitere Bündnisse nötig. Dann muss auch ein Teil der EVP in eine Mehrheitsbildung einbezogen werden. Das bedeutet, dass seitens der S&D, der RE-Fraktion und der Grünen/EFA keine allzu scharfe Abgrenzung gegen die EVP stattfinden wird. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat sich nach den Abfuhren für seine EU-politischen Vorschläge aus Berlin zwar einerseits ein Stück unabhängig gemacht von Berlin. Andererseits hat er mit dem Vorschlag, Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionpräsidentin zu machen, Berlin auch wieder ein Stück eingebunden (und zugleich Jens Weidmann als möglichen Nachfolger des EZB-Chefs Mario Draghi aufs Abstellgleis geschoben - statt Weidmann wird Christine Lagarde die Führung der EZB übernehmen). Mit diesem Schritt hat Macron sehr deutlich macht, dass er mittlerweile die EU-politischen Akzente setzt und eben nicht mehr Angela Merkel.

Für die Rechten reicht es nicht

Eine dritte Mehrheitskonstellation - eine rechte - gibt es allerdings nicht. Obgleich die Rechte bei den Wahlen einen moderaten Stimmenzuwachs zu verzeichnen hatte, reicht es auf der rechten Seite des EP nicht für eine Mehrheitsbildung.

Einer rechten Gruppierung wären die ID (73 Sitze), die ECR (62) sowie der Großteil der von der Brexit-Partei (29 Sitze) und der mittlerweile nach rechts abgedrifteten italienischen 5-Sterne-Bewegung (14 Sitze) dominierten Gruppe der Fraktionslosen mit maximal 51 Sitzen zuordnen (die Fraktionslosen-Gruppe zählt zwar 54 MdEP, dazu gehören aber auch zwei Mitglieder der Kommunistischen Partei Griechenlands und Martin Sonneborn von »Die Partei«, die sich selbstverständlich einer rechtskonservativen Konstellation nicht zuordnen würden). Zusammen käme diese Konstellation auf 186 Sitze. Nur wenn die EVP sich mit ihren 189 Sitzen komplett einer solchen Konstellation anschlösse, gäbe es eine knappe einfache rechtskonservative Mehrheit im EP. Für eine qualifizierte Mehrheit reicht es aber auf keinen Fall.

Es bleiben also nur die Optionen einer sozial-liberal-konservativen Mehrheit oder einer grün-links-liberalen Mehrheit. Realistisch ist, dass es je nach Themenbereich wechselnde Mehrheiten geben wird - in wirtschaftspolitischen Fragen wohl eher eine sozial-liberal-konservativen Mehrheit, in sozial-, klima- arbeitnehr*innen-, bürgerrechts- und menschenrechtspolitischen Fragen eher eine grün-links-liberale Mehrheit. Diese Einschätzung gilt allerdings nur bis zum Vollzug des Brexit - wenn er denn vollzogen wird.

Ohne ideologische Schaukämpfe

Aus bundesrepublikanischer Perspektive sieht das ungewohnt und kompliziert aus. Doch genau darin liegt der Charme und die Stärke des EP. Es ist nicht Mehrheitsbeschafferin für eine Regierung - die gibt es sinnvollerweise nicht auf EU-Ebene. Das EP ist ein Arbeitsparlament und muss sich oft zu jedem einzelnen Änderungsantrag zu den Gesetzesvorlagen der EU-Kommission mühsam Kompromisse erarbeiten. Daran können sich allerdings aufgrund der spezifischen Struktur des EP alle Fraktionen beteiligen, so dass auch kleinere Fraktionen an Gesetzen mitarbeiten und bei entsprechendem Verhandlungsgeschick auch Einfluss nehmen können - im Gegensatz zum Bundestag. Diese Form der Kompromissfindung zwischen im Prinzip allen Fraktionen des EP bedingt eine stärkere sachbezogene Argumentation und weniger ideologisch aufgeladene Debatten. Dafür stehen die erarbeiteten Kompromisse dann auch auf einem stabilen Fundament.

Im EU-Rat läuft der gleiche Prozess ab wie im EP. Nachdem sowohl das EP als auch der Rat sich jeweils innerhalb der eigenen Reihen auf eine gemeinsame Fassung des Gesetzestext geeinigt haben, müssen sich anschließend EP und Rat auf einen Kompromiss einigen. Die Kommission achtet in diesem Verfahren darauf, dass sich der Kompromiss im Rahmen der geltenden EU-Verträge bewegt und keine Widersprüche zu bereits bestehenden Gesetze entstehen.

Die Behauptung, dass Parlament habe kein Initiativrecht, stimmt übrigens nicht. Artikel 225 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union gibt dem EP ein indirektes Initiativrecht. Auch die Regelung, dass die EU-Kommission die Gesetzesvorlagen ausarbeitet und dem EP und dem Rat zur Beratung und Beschlussfassung vorlegt, ist keineswegs undemokratisch, wie mitunter behauptet wird. Auch in der antiken griechischen Demokratie gab es ein Gremium, dass Gesetze ausgearbeitet hat und ein anderes, dass über die Annahme von Gesetzen entschieden hat.

Losen statt wählen?

Als Antwort auf die Krise der gegenwärtigen Parteien-Demokratie hat der belgische Autor David van Reybrouck in seinem Buch »Gegen Wahlen« (Wahlen will van Reybrouck durch ein Losverfahren ersetzen) einen Vorschlag für eine Erneuerung der westlichen Demokratien unterbreitet. Es ist ebenfalls ein Modell ohne Regierung, aber dafür mit unterschiedlichen Gremien, die unterschiedliche Funktionen von der Ausarbeitung von Gesetzen bis hin zur Entscheidung über deren Annahme haben. Die politische Struktur der EU ist dem gar nicht so unähnlich, sondern lässt sich durchaus als eine Vorform des Modells von van Reybrouck interpretieren. Wenn sich das EP in den nächsten fünf Jahren mit Reformen der EU befasst - und das wird es tun müssen -, dann wäre es sinnvoll, das Modell von van Reybrouck aus genau diesen Gründen in die Überlegungen einzubeziehen.

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