Johnson verliert Parlamentsabstimmung und kündigt Neuwahl-Initiative an

Abgeordnete erzwingen mit 328 zu 301 Stimme ein Votum über Gesetzentwurf zu möglichem Brexit-Aufschub

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London. Krachende Niederlage für den britischen Regierungschef Boris Johnson im Parlament: Gegen den erklärten Willen des Premierministers erzwangen die Abgeordneten am Dienstagabend in London, dass das Unterhaus über einen Gesetzentwurf zu einer möglichen Brexit-Verlängerung abstimmen kann. Johnson reagierte umgehend und kündigte an, er werde vorgezogene Neuwahlen beantragen, falls die Abgeordneten wirklich am Mittwoch dieses Gesetz gegen den sogenannten harten Brexit beschließen.

Johnson hatte stets erklärt, er wolle zum 31. Oktober den Brexit »ohne Wenn und Aber« durchsetzen, notfalls also auch ohne ein Abkommen mit der EU. Dagegen war die Abstimmung am Dienstagabend gerichtet. Dabei votierten 328 Abgeordnete dafür, eine Abstimmung über den Gesetzentwurf gegen den »No Deal«-Brexit auf die Tagesordnung zu setzen. Nur 301 Abgeordnete unterstützten den Kurs des Regierungschefs. Es ist das erste Mal seit 1894 das ein Premierminister gleich seine erste Abstimmung im Unterhaus in Großbritannien verliert.

Gegen Johnson stimmten neben der Opposition auch 21 Abgeordnete seiner konservativen Tories - und das, obwohl der Regierungschef möglichen Abweichlern im Vorfeld mit einem Parteiausschluss hatte drohen lassen. Das soll nun geschehen. Unter den Ausgeschlossenen Konservativen befindet sich auch das Tory-Urgestein Kenneth Clarke, der schon im Februar gegen die Regierungslinie gestimmt hatte, und der Enkel von Winston Churchill. Für einen viralen Moment im negativen Sinne sorgte der Konservative und Brexit-Befürworter Jacob Rees-Mogg. Er lümmelte Dienstagabend mit geschlossenen Augen, scheinbar schlafend und halb liegend auf der grünen Parlamentsbank. Seine Haltung sei die »Verkörperung von Arroganz und Privilegien« und stehe offenbar auch für die Verachtung des Parlaments, schrieben Kritiker auf Twitter. Anschließend entstanden im Internet zahlreiche Memes, die Rees-Moggs thematisierten.

Auch wenn die Abstimmung am Dienstagabend formell zunächst nur um die Macht über die Tagesordnung ging, so galt sie doch als richtungsweisend. Es wird nun erwartet, dass das Votum am Mittwoch über den Gesetzentwurf gegen den harten Brexit ähnlich ausfallen dürfte. Laut diesem Entwurf soll der EU-Austritt im Falle einer Nichteinigung mit Brüssel nochmals bis zum 31. Januar 2020 verschoben werden.

Das aber will Johnson auf keinen Fall. Er kündigte an, einen Antrag auf Neuwahlen zu stellen, sollte das Gesetz zur Verhinderung eines »No Deal«-Brexit am Mittwoch durch das Unterhaus kommen. Eigentlich wolle er keine vorgezogenen Wahlen, sagte Johnson. Aber sollten die Abgeordneten für »einen erneuten sinnlosen Aufschub des Brexit für womöglich mehrere Jahre« votieren, »dann ist das der einzige Weg«, dann werde er den Antrag einbringen.

Schon vor der Parlamentssitzung am Dienstag - der ersten nach der Sommerpause - hatten Regierungsvertreter gewarnt, dass Johnson bei einer Abstimmungsniederlage vorgezogene Neuwahlen ansetzen wolle. Diese sollten den Angaben zufolge am 14. Oktober stattfinden, also vor einem entscheidenden EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober und noch vor dem Brexit-Termin am 31. Oktober.

In Umfragen hat Johnson durch seinen Konfrontationskurs gegenüber dem Parlament zuletzt massiv an Zustimmung gewonnen, durch vorgezogene Neuwahlen könnte er sich womöglich eine neue Mehrheit im Parlament sichern. Seine bisherige Mehrheit hatte er am Dienstag überraschend verloren, weil ein Abgeordneter seiner konservativen Partei zur Fraktion der pro-europäischen Liberaldemokraten überlief. Mitten in der Rede des Regierungschefs im Unterhaus stand der Abgeordnete Phillip Lee auf und ging von den Sitzen der Regierungsfraktion auf die Oppositionsbänke.

In seiner Rede kündigte Johnson unter anderem an, dass er am kommenden Montag nach Irland reisen werde. Dort wolle er mit dem irischen Regierungschef Leo Varadkar über die sogenannte »Backstop«-Regel sprechen, mit der die EU eine harte Grenze zwischen dem zu Großbritannien gehörenden Nordirland und Irland verhindern will. Diese Regel würde Großbritannien auch nach einem Brexit bis auf weiteres in einer Zollunion mit der EU halten, was Johnson ablehnt. Sie ist der Hauptstreitpunkt bei den Verhandlungen zwischen London und Brüssel.

Die Abgeordneten in London stehen unter immensem Zeitdruck: Bereits in der kommenden Woche beginnt eine von Johnson verfügte Zwangspause des Parlaments, mit deren Verkündung der Regierungschef neue Brexit-Debatten eigentlich verhindern wollte.

Die britische Regierung von Premierminister Boris Johnson hat währenddessen zur Bewältigung der Brexit-Folgen zusätzliche Ausgaben in Höhe von zwei Milliarden Pfund (2,2 Milliarden Euro) angekündigt. Finanzminister Sajid Javid werde am Mittwoch vor dem Londoner Unterhaus verkünden, dass die zusätzlichen Mittel im Jahr nach dem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs ausgegeben werden sollen, erklärte die britische Regierung am Dienstagabend. Die Gelder sollen etwa in den Grenzschutz und die Hafeninfrastruktur fließen. AFP/nd

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