Herrenumarmung

Leo Fischer über Männer, die auf jeden Fall falsche Assoziationen vermeiden wollen

Der Schrittzähler, den ich am Arm trage, hat eine sehr interessante und lehrreiche Zusatzfunktion: Alle paar Stunden ermuntert er mich, schnell mal eben 250 Schritte zu gehen, besonders, wenn ich viel sitze. Schnell mal hier 250 Schritte, da noch mal 250 Schritte, am besten in der Bahn oder beim Staatsempfang. So soll ich, ganz ohne es zu merken, auf die 10.000 Schritte kommen, die die Weltgesundheitsorganisation für mich vorgesehen hat, denn Sitzen ist das neue Rauchen, und kleine Spaziergänge liegen auf dem Weg zur Unsterblichkeit.

250 Schritte, hierhin und dorthin, ein emsiges Getrippel bis zum Lebensende. Wenn ich dereinst einmal in eiskalter Erde begraben liege, wird der Schrittzähler an meinem fauligen Arm gehörig weiter mahnen, immer noch 250 Schritte zu gehen. Und in mancher sternklarer Nacht werde ich mich dann tatsächlich erheben, mein untotes Gebein 250 Schritte über den Friedhof schleppen, bevor ich wieder zurück muss in die Hölle.

Ungeachtet des jenseitigen Schicksals halte ich das sanfte, stetige Mahnen des Schrittzählers für ein gelungenes Beispiel, wie gesellschaftlicher Fortschritt im Alltag ankommt: nämlich praktisch gar nicht, außer als lästige Erinnerung an etwas langfristig womöglich Gewinnbringendes. Eine Erinnerung freilich, die stets zur Unzeit kommt und immer nur weggedrückt wird, wenn auch mit gelinden Schuldgefühlen. Und nur ganz gelegentlich, zu winzigen Aufraffungen führt.

Eine dieser gesellschaftspolitischen Aufraffungen ist die Herrenumarmung, ein Begrüßungsritual zwischen cis-geschlechtlichen, (überwiegend) heterosexuellen Männern, an deren Konjunkturen sich eine ganze mikrosoziologische Dissertation entlangschreiben ließe. Eine gute Weile war es zwischen solchen Herren üblich, sich zum Salut ausschließlich die Hand zu geben (abgesehen von sozialistischen Experimenten in Sachen Bruderkuss), um jeden Zweifel bezüglich der Eindeutigkeit ihres Geschlechtslebens im Keim zu ersticken. Der Grad der Heterosexualität konnte durch die Stärke des Handschlags noch zusätzlich nuanciert werden.

Dann wurde es Mode, dass Herren so taten, als hätten sie zartere Empfindungen - und einander zu umarmen begannen. Natürlich nicht, ohne sich gleichzeitig Schmerz zuzufügen: eifriges Schultergeklapse hat diese Art Umarmung schon von der ersten Berührung an zu begleiten. So wie es jetzt Kosmetikprodukte für Herren gibt, die nicht gut riechen dürfen, sondern nach Schmieröl, so wurde ein Weg gefunden, ein als problematisch empfundenes männliches Verhalten oberflächlich-symptomatisch zu behandeln, ohne es in seiner Aussage zu ändern.

In weiter fortgeschrittenen Kreisen ist mittlerweile auch das Schultergeklapse außer Mode gekommen. Man umarmt sich jetzt, ohne den Rücken brechen zu wollen. Gleichzeitig ist es stets eine Umarmung ohne Innigkeit - man muss es schaffen, noch in einer Geste der Herzlichkeit auszudrücken, dass hier nur ja keine über das Platonische hinausgehenden Gefühle im Raum stehen. Dies wird meist durch besondere Körperspannung oder unnatürliche Abwinklungen von Torso und Armen dargestellt, um die sich berührende Körperfläche so klein wie möglich zu halten - das bizarre Gegenteil eines Balzrituals.

Auch diese Art Begrüßung ist natürlich ein Fortschritt; besser, als sich an Ort und Stelle totzuschießen. Aber es ist eben nur einer dieser kleinen, qualvollen 250-Schritt-Spaziergänge Richtung Fortschritt, die man beim nächsten Mal schon wegwischen kann, die bei der nächsten homophoben Konjunktur wieder rückstandsfrei rückgängig gemacht werden können, auf dass sie sich wieder auf das Keuscheste in die Pranken hauen, die garantiert nicht schwulen Kerle.

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