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In der Psychiatrie liegen die Nerven blank

Hessen: Zahlreiche Fälle von rechtswidriger Fixierung in Kliniken / LINKE fordert Landesregierung zum Handeln auf

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 4 Min.

Gerhard F. aus dem mittelhessischen Lahn-Dill-Kreis ist Parkinsonpatient. In den Wetzlarer Lahn-Dill-Kliniken wurde er ohne richterliche Genehmigung 16 Stunden lang fixiert. Der 64-Jährige ist auch noch Wochen später traumatisiert. Seine beiden erwachsenen Kinder haben nun Praktiken und Zustände publik gemacht, die auch in anderen Krankenhäusern alltäglich sein dürften.

Die Erfahrungen von Gerhard F. wurden dieser Tage erneut vom TV-Magazin »defacto« des Hessischen Rundfunks (HR) aufgegriffen. Bereits zuvor hatte das Magazin ein Handyvideo von der Fesselung gezeigt, das seine Kinder aufgenommen hatten. Nun berichtete »defacto«, am Arztgespräch vor der Entlassung habe auf Anweisung der Mediziner nur der Sohn Tobias F. als Zeuge teilnehmen dürfen. Zudem sei er aufgefordert worden, vor dem Gespräch sein Handy abzugeben. Als er sich geweigert habe, sei er von den Ärzten durchsucht worden. Zudem habe die Klinikleitung unter Androhung einer Strafanzeige von ihm eine Unterlassungserklärung und die Löschung der Videoaufnahmen verlangt, sagte Tobias F. dem HR.

»Freiheitsentziehende Maßnahme«

Fixierung ist der Fachbegriff für die Fesselung eines Patienten mit Gurten, Riemen oder anderen mechanischen Vorrichtungen am Bett. Sie soll der Sicherheit des Betroffenen und/oder dem Schutz anderer dienen. Die »freiheitsentziehende Maßnahme« gilt als »Ultima Ratio«. Kritiker sehen darin eine massive Verletzung von Grundrechten. Aus der Sicht von Martin Zinkler, Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Heidenheim (Baden-Württemberg), ist eine Fixierung »immer das Scheitern einer Behandlung«.

Im Juli 2018 schränkte das Bundesverfassungsgericht die Fixierung von Psychiatriepatienten ein. Zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesene Patienten dürfen dem Karlsruher Beschluss zufolge ohne richterlichen Beschluss nicht länger als 30 Minuten ans Bett gefesselt werden. Bei darüber hinausgehender Fixierung handele es sich um eine Freiheitsentziehung, für die Grundgesetzartikel 104 klare Grenzen ziehe. Über »Zulässigkeit und Fortdauer« müsse ein Richter entscheiden. Zudem sei bei jeder nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung »unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen«. Das Verfassungsgericht trug den Landtagen von Baden-Württemberg und Bayern auf, per Landesgesetz neue Psychiatriegesetze zu erarbeiten und einzuführen.

Dieses Verhalten gegenüber einem um das Wohl seines Vaters besorgten Menschen sorgt in Hessen für Aufregung - und befeuert die politische Debatte um Personalmangel und damit verbundene Zustände in psychiatrischen Einrichtungen des Landes. Eine derartige Durchsuchung von Angehörigen sei »absolut diskriminierend«, sagt der Marburger Patientenanwalt Hans-Berndt Ziegler und spricht von »Polizeimethoden«. Der Umgang mit Gerhard F. sei dabei kein Einzelfall, sagte der Jurist dem HR. Er kenne weitere im Lahn-Dill-Klinikum und in der näheren Umgebung, so Ziegler. Dies bestätigte dem HR eine Insiderin, die anonym bleiben will. Nach ihren Angaben werden in Krankenhäusern der Region täglich längere Fixierungen vorgenommen. Zu 90 bis 95 Prozent erfolgten diese ohne richterliche Genehmigung.

Immerhin hat das Klinikum in Wetzlar inzwischen eingeräumt, dass die Fixierung von Gerhard F. unrechtmäßig war. Zugleich beharrt das Management darauf, dass das Vorgehen »therapeutisch korrekt und angemessen« gewesen sei. Dass man dafür nicht die vorgeschriebene Genehmigung eingeholt habe, sei ein Fehler gewesen, »für den wir um Entschuldigung bitten müssen«.

Die LINKE-Landtagsabgeordnete Christiane Böhm bezweifelt, dass die Maßnahme aus fachlicher Sicht notwendig war. »Ich kann mir keinen medizinischen Grund vorstellen, dass ein Parkinson-Patient 16 Stunden fixiert werden muss und ihm Psychopharmaka gegeben werden, nur, weil er unruhig und sturzgefährdet ist«, sagte die gesundheitspolitische Sprecherin der Linksfraktion dem »nd«.

Böhm fordert seit langem mehr Personal sowie eine grundlegende »Neuorientierung auf eine Psychiatrie ohne Zwang«. So griff sie auch einen HR-Bericht auf, in dem von 503 Fixierungen in der Akutpsychiatrie des Universitätsklinikums Frankfurt am Main die Rede war, die in einem Zeitraum von eineinhalb Jahren an 156 Patienten vorgenommen wurden. Vielen von ihnen seien Medikamente verabreicht worden, die schwere Nebenwirkungen und Beeinträchtigungen hervorrufen können. Damit seien neuerliche Klinikaufenthalte und somit ein »Drehtüreffekt« programmiert, warnte die Politikerin im Gespräch mit »nd«.

Die Parlamentarierin verlangt eine Anhörung zur Situation in den psychiatrischen Einrichtungen und Stationen Hessens im Sozialausschuss des Landtags und fordert Sozial- und Gesundheitsminister Kai Klose (Grüne) auf, sich bei der Bundesregierung für eine Verbesserung des Personalschlüssels in den Kliniken einzusetzen. Schließlich sei der Mangel an Pflegekräften, Ärzten und Therapeuten eine wesentliche Ursache der Missstände. Die Landesregierung habe die Rechtsaufsicht über die Krankenhäuser in Hessen inne und müsse dieser Pflicht auch nachkommen, so Böhm. Gleichzeitig müsse sie dafür sorgen, dass genügend Personal vorhanden sei: »Wir brauchen eine andere Finanzierung der stationären Versorgung, mehr Geld vom Land für Investitionen und eine Personalmindestbemessung, die kontrolliert wird.«

Böhms Vorstoß stützt sich auch auf das Versorgungsbarometer Psychiatrie 2019, eine Umfrage der Gewerkschaft ver.di unter mehr als 2300 Psychiatriebeschäftigen aus 168 Kliniken. Danach hat im Monat vor der Befragung fast die Hälfte der Teilnehmenden körperliche Übergriffe gegen sich erlebt. 80 Prozent waren mit Beschimpfungen konfrontiert. Zugleich äußerten mehr als 60 Prozent der Befragten, Fixierungen wären mit mehr Personal weitgehend vermeidbar. Die Personalausstattung schätzten 50 Prozent als »knapp« und 25 Prozent als »viel zu gering« ein.

Die Situation inklusive der damit verbundenen psychischen Belastung der Beschäftigten führe dazu, dass sich mehr als drei Viertel der Befragten nicht vorstellen könnten, »mit der derzeitigen Personalausstattung bis zur Rente in der Psychiatrie weiterzuarbeiten«, heißt es im Versorgungsbarometer. Zwang werde »nicht ausgeübt, weil es keine anderen Mittel mehr gibt«, um Menschen von Selbstverletzung und Gefährdung anderer abzuhalten, »sondern weil nicht genügend Personal vorhanden ist«, schlussfolgert Christiane Böhm .

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