Spekulationen über Minderheitsregierung

Nach der Landtagswahl in Thüringen stehen komplizierte Koalitionsverhandlungen an

  • Sebastian Haak, Erfurt, und Aert van Riel
  • Lesedauer: 4 Min.

Ihre Arme fliegen so weit nach oben, wie sie nur nach oben fliegen können: Als die Bundes- beziehungsweise die Landesvorsitzende der LINKEN, Katja Kipping und Susanne Hennig-Wellsow, um Punkt 18 Uhr auf der Wahlparty in Erfurt sehen, wie sehr sich der lilafarbene Balken auf der Leinwand vor ihnen nach oben schraubt, da kennen sie kein Halten mehr. Schreie. Es ist echte Freude, die sich bei beiden Bahn bricht, über ein - wie Hennig-Wellsow es gleich sagen wird - »historisches Ergebnis«. Über »Schwung« - so sagt es Kipping kurz darauf -, den dieses Ergebnis der Bundespartei verleihe. Fast 30 Prozent der Zweitstimmen, so heißt es in dieser Prognose, konnten die Thüringer LINKEN bei der Landtagswahl gewinnen. Noch mehr als 2014, damals waren es 28,2 Prozent gewesen.

Dazu passt, dass die LINKE ihre Wahlparty im sogenannten Zughafen in Erfurt feiert, einem relativ jungen Kulturzentrum. Die Backsteinwände der lang gezogenen Halle sind weiß gestrichen, von der Decke hängen rote Kugellampen, die spitz zulaufende Holzdecke trägt dazu bei, dass die Anlage einen ebenso vergangenen Industrie- wie modernen Kulturcharme versprüht, sich also zwischen zwei Extremen bewegt. So wie sich auch die LINKE im Osten nach dieser Wahl eben in einer Welt der Extreme befindet. Einerseits kämpft sie in Ländern wie Brandenburg und Sachsen nach den dortigen Landtagswahlen um ihre politische Bedeutung. Andererseits ist sie nun in Thüringen die stärkste politische Kraft. Die CDU, die bislang stets die stärkste Fraktion im Landtag gestellt hat, wird in Zukunft wohl nur noch die drittstärkste Fraktion im Landtag sein; hinter der AfD. So sieht es jedenfalls nach den Prognosen und Hochrechnungen aus.

LINKE legt in Thüringen weiter zu / Grüne können nicht profitieren

Wozu wiederum passt, wie sich der Thüringer CDU-Vorsitzende Mike Mohring an diesem Abend auf der CDU-Wahlparty präsentiert. Er tritt tatsächlich demütig vor seine Anhänger. Die vergangenen fünf Jahre in der Opposition, das hat er im Wahlkampf immer wieder gesagt, hätten seine Partei und ihn Demut gelehrt. Aus seiner Enttäuschung über das schwache Abschneiden macht er keinen Hehl. Nun stimmten nur noch etwa 22,5 Prozent der Bürger für die CDU, ein Verlust von elf Prozentpunkten.

Aus dem starken Abschneiden der LINKEN leitet Hennig-Wellsow eine gute halbe Stunde vor Mohrings Auftritt vor seinen Leuten einen Regierungsauftrag für ihre Partei ab. »Den werden wir erfüllen«, sagt sie - und lässt doch offen, wie genau das gehen soll. Erst einmal müsse man das endgültige Wahlergebnis abwarten.

Letzteres sagen an diesem Abend viele, egal, wo man sie trifft und fragt: auf den Wahlpartys, auf den Fluren des Landtages, am Telefon. Um vor allem eine Wahrheit zumindest ein bisschen zu verschleiern: Einen wirklichen Plan, wie es nun in Thüringen weitergehen soll, hat niemand. Denn auch wenn die LINKE so stark ist, SPD und Grüne sind es nicht. Die Zeiten einer rot-rot-grünen Mehrheit im Land sind den Prognosen und Hochrechnungen nach vorbei.

Landtagswahl Thüringen 2019: vorläufige Sitzverteilung

Erste Ideen, wie man mit der komplizierten Situation umgehen könnte, äußert Benjamin-Immanuel Hoff. Er ist für die LINKE Chef der Thüringer Staatskanzlei und Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. In einem Fernsehinterview mit dem Sender Phoenix sagt Hoff, dass Ramelow erneut einen Auftrag zur Regierungsbildung habe. »Wir wollen rot-rot-grüne Politik weiter gestalten«, erklärt Hoff. Dafür könnten die Parteien möglicherweise auch auf wechselnde Mehrheiten setzen. Das würde bedeuten, dass eine Minderheitsregierung gebildet wird. Ein Bündnis zwischen CDU und LINKEN wird von beiden Parteien abgelehnt.

Der SPD-Spitzenkandidat für die Landtagswahl, Wolfgang Tiefensee, sieht seine Partei trotz ihres schlechten Ergebnisses weiter in Regierungsverantwortung. Die Sozialdemokraten verloren erneut an Zustimmung und lagen laut Hochrechnungen bei nur noch acht Prozent der Stimmen.

Weitere Verliererinnen sind die Grünen mit etwas über fünf Prozent. Spitzenkandidatin Anja Siegesmund hält für ihre Partei Koalitionsgespräche mit allen Parteien außer der AfD für möglich. »Es ist unsere demokratische Pflicht, selbstverständlich mit den demokratischen Parteien, also LINKE, SPD und FDP und gegebenenfalls auch mit der CDU zu reden«, sagt sie am Sonntagabend.

Auf dem zweiten Platz landete mit rund 24 Prozent die AfD mit ihrem rechtsradikalen Spitzenmann Björn Höcke. Die Partei profitierte vor allem von der gestiegenen Wahlbeteiligung. Nachdem im Jahr 2014 noch 52,7 der Thüringer zur Wahl gingen, waren es nun 65,5 Prozent.

Die FDP konnte mit etwas mehr als fünf Prozent auf eine Rückkehr in den Thüringer Landtag hoffen. Ihr Spitzenkandidat Thomas Kemmerich erklärt, dass seine Partei nicht in ein Bündnis unter Führung der Linkspartei eintreten werde. Er favorisiere weiterhin eine Minderheitsregierung, sagt Kemmerich.

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