Urwahl der Grünen in Handarbeit

Briefe zur Abstimmung über den Koalitionsvertrag werden eingetütet und jetzt abgesendet

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.

40.000 Postbriefsendungen täglich kann der Letter-Shop in der Rudolf-Breitscheid-Straße 162 bewältigen. Aufträge in einer Auflage von bis zu 300.000 Stück sind kein Problem für die Potsdamer Letter-Shop-Agentur für Direktmarketing und Mailservice. Zu den großen Kunden gehören Banken und Krankenkassen, sagt Inhaberin Karola Stahlberg.

Daran gemessen sind die brandenburgischen Grünen ein kleiner Fisch. Sie lassen am Montag von Stahlbergs Mitarbeitern die Unterlagen für die Urwahl zum Koalitionsvertrag mit SPD und CDU eintüten. Die 1942 Mitglieder im Landesverband dürfen entscheiden, ob der Vertrag zustande kommt. Sie dürfen bei der Gelegenheit auch noch gleich darüber abstimmen, ob die Fraktionschefs Ursula Nonnemacher und Axel Vogel in der neuen Koalition Minister werden. Die Ressorts Soziales beziehungsweise Umwelt sind für die beiden Politiker reserviert. Die 1942 Briefe fertigzumachen, die an diesem Dienstag auf den Postweg geschickt werden sollen, ist für den Letter-Shop ein Klacks. Dafür lohnt es sich nicht einmal, die vollautomatischen Maschinen anzuwerfen. Denn das Einrichten dauert seine Zeit. Bei einer so kleinen Stückzahl gehe das Eintüten von Hand schneller, erläutert Inhaberin Stahlberg.

Sie ist dennoch froh über den Auftrag. »Wenn man ein grünes Herz hat und alles darauf ausrichtet, ist man stolz, ein kleines Rädchen im Getriebe zu sein«, sagt sie - und meint damit den Weg zur ersten Regierungsbeteiligung der brandenburgischen Grünen seit Beginn der 1990er Jahre. Seit 26 Jahren gebe es den Letter-Shop, seit zehn Jahren werde er als klimaneutrales Unternehmen geführt, erläutert Stahlberg. Das bedeutet, die bei der Geschäftstätigkeit verbrauchten Ressourcen wie zum Beispiel das verwendete Papier und der eventuelle Schadstoffausstoß beim Arbeitsweg der Mitarbeiter werden errechnet. Zum Ausgleich spendet die Firma Geld für Umweltprojekte, aktuell für die Wiederaufforstung des durch Brände verwüsteten brasilianischen Regenwaldes.

Auf der anderen Seite beauftragten die Grünen den Letter-Shop genau wegen dieses Umweltbewusstseins mit der technischen Abwicklung der Urwahl. Noch umweltfreundlicher wäre eine Online-Abstimmung, doch dies sei rechtlich noch nicht zulässig, bedauert Parteisprecherin Annette Weiß.

Auf die Briefumschläge gedruckt steht das Motto: »Die Basis ist Boss.« Theoretisch könnte es sein, dass der Koalitionsvertrag abgelehnt wird. Dann müsste entweder mit SPD und CDU nachverhandelt oder sogar überlegt werden, ob nicht doch eine rot-rot-grüne Koalition gebildet wird, die den Grünen ursprünglich sowieso lieber gewesen wäre. Aber für einen Neuanlauf wäre die Zeit schon zu knapp. Denn in Brandenburg schreibt die Landesverfassung vor, dass spätestens drei Monate nach der konstituierenden Sitzung des Landtags der Ministerpräsident gewählt werden muss. Gelingt das nicht, müssen Neuwahlen angesetzt werden.

Das ist aber extrem unwahrscheinlich. SPD, CDU und Grüne sind sich nähergekommen. Nicht einmal die Grüne Jugend, die die größten Bauchschmerzen mit dieser Konstellation hatte, empfiehlt nun ausdrücklich eine Ablehnung des Koalitionsvertrags, sondern rät, jeder solle für sich entscheiden, wie er seine Kreuze bei der Urwahl setzt. Genauso unwahrscheinlich ist, dass Nonnemacher und Vogel bei der Basis durchfallen und eine zweite Urwahl über andere Minister stattfinden muss. Vogel ist der mit Abstand fähigste Politiker, den die brandenburgischen Grünen haben. Auch Nonnemacher genießt große Anerkennung.

Abstimmen darf, wer zum Stichtag 21. Oktober Mitglied im Landesverband gewesen ist. Das sind nach derzeitigem Stand 1942 Personen. Bis zum 16. November müssen die ausgefüllten Urwahlunterlagen in einem Postfach oder im Briefkasten der Landesgeschäftsstelle eintreffen, um mitgezählt zu werden. Im Briefkasten der Geschäftsstelle soll am 16. November mitternachts extra nachgesehen werden, ob jemand seinen Stimmzettel in letzter Sekunde eingeworfen hat.

Aufbewahrt werden vorher eingehende Briefe in Urnen, die Berlins Ex-Justizsenator Wolfgang Wieland (Grüne) an diesem Dienstag versiegelt. Wieland, dessen politische Karriere eng mit Berlin verbunden ist, hatte bei der Landtagswahl 2004 mal als Spitzenkandidat der Grünen in Brandenburg ausgeholfen. Doch damals scheiterten die Grünen mit nur 3,6 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde. Nun werden sie mit 10,8 Prozent der Wählerstimmen Regierungspartei, wenn auch die kleinste von drei.

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