Werbung

Als ich vorging

Von Ostberlin nach Westberlin, kurz vor dem Mauerfall: Eine Erinnerung an glückliches, finsteres Herumstehen

  • Andreas Gläser
  • Lesedauer: 5 Min.

Ich war froh, dass ich schon im Sommer ’89 in der bis dato eingemauerten Frontstadt Westberlin angekommen war. Dort hatten die Stadtväter eine imposante Kulisse aufbauen lassen. Zwischen dem Potsdamer Platz und dem Gleisdreieck schwebten in der Magnetbahn ziellose Menschen hin und her. Der stillgelegte U-Bahnhof Bülowbogen war eine Markthalle. Wer wollte, der konnte sich den U-Bahnhof Nollendorfplatz oder den S-Bahnhof Hohenzollerndamm mieten, um die letzte Reagan-go-home-Party oder aber das erste Ronald-come-back-Fest zu feiern.

Die Kunstobjekte auf dem Ku’damm sollten sich irgendwie auf die 750-Jahrfeier Berlins beziehen, doch sie erinnerten eher an den Einsturz der Kongresshalle oder an die Kinder vom Bahnhof Zoo. »Umsonst und draußen« gab es an jeder Ecke. Im Tempodrom gab es die »Heimatklänge« von sonst wo. Alle gingen dauernd weg: Konzerte, Konzerte, Konzerte; am Montag, Mittwoch, Freitag, Sonnabend; ab ins Metropol, Loft, Extacy, Quartier Latin, KOB; zu Plan B, Element Of Crime, Whisky Priests, Blechreiz, Busters, Butlers. Ich staunte doch ein wenig, dass sich so viele Leute für so kleine Kapellen interessierten. Wahrscheinlich halfen die vielen Drogen gegen Ausgeglichenheit, Pünktlichkeit und Arbeitseifer.

Es war gerade Ska-Erinnerungszeit, wie alle Jahre wieder. Seitdem ich diese Musik hörte, war ich schon zweimal modern und dreimal unmodern gewesen. Laurel Aitken kam nach Berlin. Er schaffte es als ungefähr 60-Jähriger aus London hierher, da schaffte ich es auch als Mittzwanziger von Schöneberg nach Charlottenburg. Am häufigsten war ich im KOB, in der sagenumwobenen Potsdamer Straße, schräg gegenüber vom Sozialpalast beziehungsweise genau gegenüber vom Sexkino.

Das KOB galt als anstrengendere Villa Kunterbunt. Die Besatzung strebte nach politischer Korrektheit. Diese Herausforderung nahm ich nicht an. Das KOB war auch für den Senat anstrengend. Der Vorstandssprecher der Deutschen Bank war gerade einem Mordanschlag der RAF zum Opfer gefallen, und nun propagierten die KOB-Leute die Zusammenlegung von Alfred Herrhausen und was weiß ich wem. Ich war mitten im Film. Unter der Decke hingen 500er-Lüftungsrohre, wohl wegen der dicken Polit-Luft.

Auch in Westberlin war die Sowjetunion gerade modern. Glasnost und Perestroika galten als cool. Einige Leute wollten die politische Lage entsprechend forcieren, damit Michail Gorbatschow in den neuen rotgrünen Senat einziehen würde. Seine Frau Raissa bekam viele Einladungen, um in verschiedenen Unterhaltungssendungen freundlich in die Kamera zu gucken.

Ich stand lieber glücklich und finster im KOB herum. Die Armutsnummer war schwer angesagt. Mit Bundesschatzbriefen brauchte ich diesen schrägen Gestalten nicht zu kommen. Bei vielen Leuten hatte das Elternhaus versagt, und bei vielen Elternhäusern die Gesellschaft. Ich sah aber nicht ein, weshalb viele Konzertbesucher am Rad der Geschichte drehen wollten. Volkseigentum hieß nur, dass sich die wenigsten Genossen für die Totalschäden verantwortlich fühlten. Der Bund und die Alliierten bezahlten ja alles. Ich betrank mich gerne in diesen Kneipen, in denen sich alle betranken. An so manchem Morgen studierte ich im Spiegel einige Gesichtszüge, die mich in zehn, fünfzehn Jahren wohl dauerhaft prägen sollten. Hier war der Klassenkampf nur ein Wochenenderlebnis, der real existierende Sozialismus war nicht bitterer Alltag.

Schöneberg war eine gelungene Alternative für die Leute, die sich nicht nach Kreuzberg trauten. Kurz nach der Maueröffnung fand diese große Demo statt. Angesagt war Sonnabend 12 Uhr, Schlesisches Tor: »Deutschland halt’s Maul« oder so. Natürlich kamen nur einige Ostler pünktlich um 11.30 Uhr. Wir hatten von der Sowjetunion gelernt, dass der Feind nicht schläft. Und so unterhielten wir uns vorerst mit den Bullen über die Aufstiegschancen von Hertha BSC.

Bevor sich der Zug gegen 13 Uhr in Bewegung setzte, diskutierten Stalinisten, Trotzkisten und sonst wer darüber, wer mitdemonstrieren durfte und wer nicht. Während dieser Demo bekam ich zweimal einen Hieb zwischen die Rippen, weil ich zu nahe am Frauenblock entlangspaziert war.

Ich hatte diese Vermummten nicht als Frauen erkannt. Wenn im Osten herumgestänkert wurde, dann waren es alte Stasis oder neue Faschos. Und wenn im Westen irgendwelche Spalter herumtönten, dann sollten sich die Angegriffenen rechtfertigten, dass sie nicht rassistisch, faschistisch und sexistisch wären.

Es war dann aber doch noch eine machtvolle Demonstration, und die Zeit heilte so manche Wunde. In Kreuzberg gab es unter den Spazierenden Fleischfresser, Vegetarier, Veganer und Ganer. Diese Leute aßen entweder Fleisch oder Gemüse, Eier oder gar nichts.

Anfang der 90er fiel ein Großteil der Westberliner Szene auseinander, weil sie nicht mehr von der Mauer eingeengt wurde. Viele Schwabenzonis vollzogen den kollektiven Umzug in den nahen Osten.

Sie demonstrierten den dortigen Einheimischen die Nachteile von Zielstrebigkeit, Rationalität und Verschlossenheit. Im alten Westen kehrte zunehmend Ruhe ein. Die Potsdamer Straße wurde langweiliger. Das legendäre Quartier Latin wurde zum schrulligen Wintergarten. Neuerdings wollten irgendwelche Orchester die 20er Jahre herbeimusizieren. Es gab immer weniger Abgesänge auf die Gegenwart. Das KOB machte dicht. Radio 100 ging pleite. Rock ’n’ Roll City verlor eine Hochburg nach der anderen. Einige Kreuzberger verdienten sich einen Turnbeutel voll Ostgeld, indem sie Schöneberg an Steglitz verkauften. Der Westen verlor zunehmend seinen Zauber.

Ich hatte nicht den Ehrgeiz, die Stellung zu halten. Der Abriss des Schöneberger Rathauses hätte mich weniger interessiert als die Umgestaltung eines Pankower Obst- und Gemüseladens in ein Eiscafé.

An diesem Donnerstag um 20 Uhr liest Andreas Gläser zusammen mit Ahne und Jan von Im Ich bei »Als die Mauer fiel, war ick uff Schicht - Ostberliner verklären die Wende« in der Alten Kantine in der Kulturbrauerei in Berlin-Prenzlauer Berg.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -