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Alltag als Transit
Exerzitien des Übergangs: Die Berliner Akademie der Künste zeigt eine Retrospektive der Fotografin Helga Paris
Gibt es das authentische Bildgedächtnis einer Zeit, zumal das einer untergegangenen Gesellschaft wie der DDR? Fotos bilden das ab, was ist. So glaubt man gemeinhin. Doch schon, wenn zwei Fotografen ein und dasselbe fotografieren, bemerkt man, dass die Bilder grundverschieden werden. So grundverschieden, wie es die Fotografen auch sind. Dass sehr verschiedene Bilder des gleichen Motivs entstehen, muss also etwas mit der Art des Sehens zu tun haben, dem Blickwinkel. Was ist es, das man zuerst bemerkt - und welche technischen Möglichkeiten nutzt ein Fotograf, dieses Bemerkte sichtbar zu machen?
Die Fotos von Helga Paris blicken auf den Alltag von ganz normalen Menschen, die jedoch alles andere als gewöhnlich scheinen. Es sind zumeist Momentaufnahmen in Schwarz-Weiß. So fotografierte die 1938 im pommerschen Gollnow geborene und in Berlin aufgewachsene Helga Paris fast ein halbes Jahrhundert lang Dinge, von denen sie das Gefühl hatte, dass sie sie selbst - und vielleicht auch andere - etwas angehen. Jetzt hat sie ihr Archiv mit über 230 000 Negativen der Akademie der Künste geschenkt. Zum Dank widmet ihr die Akademie eine umfangreiche Ausstellung.
Regisseurin Helke Misselwitz, die für die Ausstellung ein Dokumentarfilm-Triptychon schuf, sagt bei der Ausstellungseröffnung, dass die Fotos von Helga Paris immer im Dialog mit ihren Motiven stünden. Tatsächlich blicken die Fotografierten in jedem Falle zurück, selbst dann, wenn es scheinbar tote Dinge sind, eine Berliner Straße an einem Nebelmorgen etwa. Auch da ist etwas Aktives im Bild, das dem Betrachter entgegenkommt. Das Foto »Winsstraße mit Taube« aus den 70er Jahren zeigt, dass ein einziger Vogel in einer dunklen Straße buchstäblich ein Lichtblick sein kann.
Oder auch die Serie »Häuser und Gesichter«, fotografiert 1983-1985 in Halle an der Saale. Menschen stehen vor Gebäuden, die mehr sind als eine bloße Kulisse: der verlängerte Leib dieser Menschen - abgenutzt, mit sichtbaren Spuren vergehender Zeit, aber noch im rußigen Schwarzgrau überaus präsent. Zu diesem Thema entstand auch der Bildband über Halle »Diva in Grau«.
Helga Paris’ Schwarz-Weiß-Fotos suchen den Grauton, der Übergänge zeigt. Sie geben der Umgebung, die andere Fotografen einfach wegschneiden, um den Blick zu konzentrieren, sehr viel Raum. Das macht ihre Bilder, die mehr sind als bloße Bild-Chroniken, so interessant: als Momentaufnahmen von kleinen alltäglichen Begebenheiten. Sie bergen in sich immer mehr als den einen Punkt, auf den zu schauen sich lohnt. Das hier sind Panoramen des Alltags, der aus vielen kleinen Dramen und Komödien besteht.
Diese Fotos bergen den Geist einer Zeit, wie er auf der Straße liegt. Dazu muss man Vertrautes so anblicken, als sähe man es zum ersten Mal: »Ich habe Halle fotografiert wie eine fremde Stadt«, sagt sie. Nur was man in eine Distanz zu bringen vermag, kann man auch wieder nah zu sich heranholen. Der Moment des Zurücktretens zuvor jedoch ist entscheidend.
Ohne die »arbeiterliche Gesellschaft«, als die der Soziologe Wolfgang Engler die DDR bezeichnete, wären diese Fotos anders. Die Straßen von Berlin, Prenzlauer Berg, wo sie seit 1966 lebt, wirken auch darum so grau, weil hier schwere, schmutzige Arbeit alltäglich war - von Kohlefahrern bis zu Müllmännern. Und auch die Armut, die diesen Arbeiterbezirk prägte, in dem besonders viele Rentner lebten, war alles andere als farbig. Der Schatten des Krieges lag bis in die 80er Jahre über dem Osten Berlins.
Als Helga Paris - ermutigt von dem Dokumentarfilmer Peter Voigt - in den 60er Jahren zu fotografieren begann, wählte sie zuerst Motive aus der Nachbarschaft. Da war etwa die Familie Köstner, die im gleichen Haus wohnte, die sie von 1968 bis 1981 mit der Kamera begleitete. Der Vater arbeitete im Schlachthof, die drei Söhne bei der Müllabfuhr. Die Fotos zeigen jenen selbstverständlichen Arbeiterstolz, der heute bloß noch eine vage Erinnerung ist.
Der Blick der Fotografin sucht die Menschen hinter ihrer sozialen Stellung, die oft genug eine Pose ist. Welche Gefühle, welche Sorgen und Hoffnungen tragen sie mit sich? Für »Das Magazin« fotografierte sie Mitte der 70er Jahre Serien über »Berliner Kneipen« und »Müllfahrer«. Wann eigentlich verschwanden die vielen Berliner Eckkneipen, ab wann wäre eine Foto-Serie über Müllfahrer nicht mehr zu veröffentlichen gewesen?
Mit den Wertmaßstäben ändern sich die Sehgewohnheiten. Manche der eiligen Pressevertreter laufen zur Eröffnung durch die Ausstellung, ihre Smartphones im Anschlag, mit der sie die ausgestellten Werke abfotografieren. Oder soll man sagen totfotografieren? Denn die Fotos von Helga Paris - wie auch die von anderen großen DDR-Fotografen wie Sibylle Bergemann, Roger Melis oder Arno Fischer - fordern vom Betrachter jene konzentrierte Stille, die zur stummen Zwiesprache wird. Es sind Gegenbilder zur permanenten Kommunikation unserer Gegenwart, die sich mit einer Flut von Bildern und Tönen über uns ergießt, ohne dass etwas davon bleibt.
Diese Bilder, die mit großer Aufmerksamkeit die kleinen Verwandlungsmomente im alltäglichen Leben festhalten, sind so etwas wie Exerzitien des Übergangs. In welchen kaum bemerkbaren Momenten tritt aus dem gelangweilten Warten einer Arbeiterin auf den Feierabend die unstillbare Erwartung auf ein ganz anderes Leben hervor? Ihre Fotos von ebenso unscheinbaren wie unübersehbaren Kittelschürzenträgerinnen sind berühmt. Man muss das Besondere hinter der Uniformisierung bemerken wollen. Das Spektakuläre verbleibt so im Alltäglichen, es scheint nur kurz auf. Helga Paris besitzt jenes Talent zum Menschen, von dem Tschechow einst sprach. Es ist Bereitschaft zum einfachen Leben.
Auch ihre Künstlerfotos, von denen es zahlreiche gibt, sind bewusst alltäglich. Ob Autoren wie Christa und Gerhard Wolf in Meteln, Adolf Endler, Erich Arendt, ihre enge Freundin Elke Erb oder die Maler Núria Quevedo, Dieter Goltzsche, Charlotte E. Pauly oder Arno Mohr - hier sind Menschen zu sehen und nicht die Repräsentanten ihres Werks.
Immer wieder hat Helga Paris stark belebte Plätze fotografiert, über einen längeren Zeitraum, manchmal jahrelang. Diese Orte wirken mit Menschen anders - eben belebt! - als in den seltenen Momenten ohne sie, wo die Leere um sich greift. Im Wechsel zwischen beidem liegt die Faszination. So blickt sie auf den Alexanderplatz oder den Leipziger Hauptbahnhof. Menschen im wechselnden Licht, die es entweder eilig haben oder hier gestrandet sind - es ist in jedem Falle ein visueller Zusammenklang von Mensch und Ort, der verzaubert, auf eine durchaus unspektakulär-herbe, aber eindringliche Weise. Jedenfalls dann, wenn man diesen Szenen in sich Zeit und Raum gibt. Denn die Menschen und Milieus, die ihre Fotos zeigen, befinden sich gleichsam im ständigen Transit.
Noch ist die Endstation nicht erreicht - und auch für den Künstler, der Zeuge und Akteur gleichermaßen ist, gilt das, womit Ronald Paris, der Maler und einstige Ehemann der Fotografin, begegnet man ihm, gern ein Gespräch beginnt und es auch wieder beendet: »Wir üben weiter!«
»Helga Paris, Fotografin«, bis 12. Januar 2020, Akademie der Künste Berlin, Pariser Platz 4.
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