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Mit voller Überzeugung

Englands Fußballerinnen profitieren von einer beispielhaften Zusammenarbeit zwischen Verband, Vereinen, Medien und Sponsoren.

  • Frank Hellmann, London
  • Lesedauer: 5 Min.

Pauline Bremer kann sich noch gut an den 23. November 2014 erinnern. War ja nicht selbstverständlich, dass die damals 18-Jährige als Einwechselspielerin für Simone Laudehr noch ein bisschen Atmosphäre auf dem heiligen Rasen schnuppern durfte. Mehr als 45 000 Zuschauer hatte das Länderspiel der Deutschen gegen England ins Wembley-Stadion gelockt - und die damalige Bundestrainerin Silvia Neid war wie so viele überzeugt, dass die junge Draufgängerin von Turbine Potsdam bald eine prägende Figur für das deutsche Nationalteam sein würde.

Wenn sich die Teams von England und Deutschland an diesem Sonnabend erneut in der Londoner Kultstätte duellieren, wäre die inzwischen 18-fache Nationalspielerin wieder »über jede Minute glücklich, die ich spielen darf«. Vor allem, weil der Rahmen alle bisher gekannten Dimensionen sprengt. Mit 90 000 verkauften Tickets kratzt die Partie an der Bestmarke von 90 185 Besuchern beim WM-Finale 1999 zwischen den USA und China im Rose Bowl von Pasadena, die bis heute Weltrekord beim Zuschauerzuspruch für Fußballerinnen bedeuten.

Der englische Verband FA inszeniert ein Event von riesiger Strahlkraft. Jugendliche unter 16 Jahren brauchten nur 1 Pfund (1,16 Euro) zahlen, die restlichen Karten kosteten bei 7 bis 20 Pfund auch kein Vermögen. »In England sind die Menschen generell fußballverrückt. Die Vermarktung dieser Highlights zieht der Verband richtig groß auf. Und dann noch im Wembley-Stadion, das ist sowieso etwas ganz Besonderes für die Engländer«, erklärte die seit 2017 für Manchester City spielende Bremer jüngst. Die 23-Jährige hat nach ihrem Wechsel zu Olympique Lyon 2015 viele Höhen und Tiefen erlebt. Nach der WM 2015 konnte die Allrounderin kein Turnier mehr bestreiten. Vor allem die langen Verletzungspausen waren dem Karrierefortschritt nicht dienlich.

Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg verzichtete auf Bremer bei der WM in Frankreich »aus Leistungsgründen«, hat sie aber im Hinblick auf die EM 2021 in England wieder auf dem Zettel. »Sie hat sich stabilisiert und ist auf einem guten Weg. Sie empfindet alles als Bereicherung, egal ob es positiv oder negativ ist.« Als sich das deutsche Team im niederländischen Tegelen auf den stimmungsvollen Jahresabschluss vorbereitete, hätten »alle ein Strahlen im Gesicht« gehabt, erzählte die DFB-Trainerin. »Dass wir vor so einer Kulisse spielen dürfen, ist ein Geschenk. So etwas haben die Spielerinnen noch nicht erlebt. Nach einem facettenreichen Jahr ist das eine kleine Belohnung.« Bremer sollte im Kreise des DFB-Teams bewusst »ihre Erfahrungswerte platzieren«: Mitspielerinnen aus erster Hand mitteilen, was gerade auf der Insel abgeht.

Die Erklärung, dass der Klassiker nur durch die verbilligten Eintrittspreise mehr Interessenten anlockt als EM-Qualifikationsspiele von Harry Kane und Co. an selber Stelle, greift definitiv zu kurz. DFB-Direktorin Heike Ullrich spendet »Gratulation und Anerkennung« für das, was in England gerade passiert: »Man spürt, dass das Thema Frauen- und Mädchenfußball dort auch gesellschaftspolitisch angekommen ist und gerade in diesem Bereich eine große Rolle spielt.«

Verband und Vereine, Medien und Sponsoren spielen geschickte Doppelpässe, auch im Hinblick auf die anstehende Europameisterschaft. »Solch ein Turnier löst etwas aus«, glaubt Voss-Tecklenburg und erinnert an den Hype, der Deutschland vor der Frauen-WM 2011 durchzog. Tatsächlich wirkt der Boom auf der Insel ganz ähnlich: Die Barclays Bank pumpt Millionen ins weibliche Segment, der Sender BBC steigert seine Sympathien. Fast zwölf Millionen Briten verfolgten an den Fernsehgeräten das WM-Halbfinale der Engländerinnen gegen die USA, das die »Lionesses« unglücklich verloren. Ullrich preist eine »selbstverständliche Begeisterung für den Fußball als Ganzes, die Anerkennung und Wertschätzung, bei der kein Unterschied zwischen Männer- und Frauenfußball gemacht, sondern beides als attraktives und anspruchsvolles Angebot gesehen wird«. Und: »Gerade bei der gesellschaftspolitischen Verankerung des Frauenfußballs sehe ich bei uns noch Potenzial, das machen die Engländer vorbildlich.« Bemerkenswerte Töne in Brexit-Zeiten.

Das vom ehemaligen Nationalverteidiger Phil Neville trainierte Nationalteam beeindruckt durch Power, Physis und viel Selbstbewusstsein. Bei WM 2015, EM 2017 und WM 2019 schnitt England bereits besser ab als Deutschland. Und während die Olympiasiegerinnen wegen des frühen WM-Ausscheidens bei den Spielen 2020 in Japan fehlen, darf Team England mit einer Sondergenehmigung im Olympischen Fußballturnier für Großbritannien antreten. So wertet Sue Campbell, die FA-Direktorin Frauenfußball, das ausverkaufte Wembley-Stadion »als Beleg für ein Jahr voller Fortschritte«.

Die Women’s Super League (WSL) ist zur gefragten Adresse für die weltbesten Spielerinnen geworden. Chelsea, Arsenal oder Manchester City, neuerdings auch Manchester United oder West Ham investieren aus voller Überzeugung. Wobei Bremer aus dem Alltag der »Citizens« erzählt, dass sie Kontakt zu Leroy Sané oder Ilkay Gündogan höchstens mal bei einer Werbeaktion oder der Weihnachtsfeier hat: »Die Männer leben in einer eigenen Welt.« Dennoch strömten mehr als 31 000 Zuschauer zum Saisonauftakt der Frauen ins Etihad-Stadion, um das Derby gegen Manchester United zu erleben. An den ersten fünf Spieltagen vermeldete die WSL bereits eine Gesamtzuschauerzahl von 117 000, weil einzelne Events prima Resonanz fanden. »Das ist aber nicht der Alltag. Normalerweise kommen 1000 bis 2000 Leute«, erklärt Bremer. Dennoch: In der Bundesliga waren es nach den ersten neun Spielrunden insgesamt erst 53 000 Besucher (Schnitt 990). Vizemeister Bayern München mag zwar inzwischen professionelle Rahmenbedingungen und einen erhöhten Etat bereitstellen, aber die geringe Resonanz bei durchschnittlich 700 Zuschauern, egal, ob die Frauen auf dem Bayern-Campus oder an der Grünwalder Straße spielen, ist auch eine Folge vieler verpasster Chancen.

Stagnation bestimmt ebenfalls die Heimauftritte der DFB-Frauen: Zu den EM-Qualifikationsspielen gegen Montenegro und die Ukraine kamen 6275 Zuschauer ins Kasseler Auestadion beziehungsweise 5504 auf den Aachener Tivoli. Beim zweifachen Weltmeister und achtfachen Europameister sind fünfstellige Zuschauerzahlen die Ausnahme geworden. Voss-Tecklenburg regt nun in enger Abstimmung mit dem Verband an, pro Jahr künftig ein oder zwei »Highlight-Spiele in größeren Stadien zu organisieren«. Eine hochrangige DFB-Delegation mit dem neuen Präsidenten Fritz Keller an der Spitze wird sich am Wochenende in London mit den FA-Funktionären austauschen. Aber selbst die ansonsten immer so optimistische Bundestrainerin warnt an diesem Punkt vor überzogenen Erwartungen: »Wir werden nicht von heute auf morgen in die gleiche Richtung steuern.« So weit ist England seit dem 23. November 2014 schon enteilt.

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