Die Kinder von ’89

Baseballschläger, internationale Solidarität und zwei Besuche in Chemnitz.

  • Markus Bickel
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Ton macht die Musik, und Felix Kummer gibt den Beat vor. »Es war nie ein Kampf, wir sind immer nur gerannt«, singt der Frontmann der Chemnitzer Band Kraftklub auf seinem ersten Soloalbum »Kiox«. Hetzjagden von Neonazis auf Nichtrechte bestimmten die Jugend des 1989 in Karl-Marx-Stadt geborenen Musikers. Als 14-Jähriger habe er ständig aufs Maul bekommen, immer dann, wenn er es nicht geschafft habe, schnell genug wegzurennen, erzählte er zum Erscheinen der Platte im Oktober.

»Born to be Opfer, Zeit zu kapier’n, dass da, wo wir leben, Leute wie wir eben einfach kassieren«, heißt es in dem nach der früheren Postleitzahl von Karl-Marx-Stadt benannten Song »9010«, in dem Kummer einen rechten, von Alkoholismus gezeichneten Altersgenossen anspricht - nicht triumphierend, sondern mit Empathie, trotz aller Gewalt, die von ihm und seinen rechten Kumpels ausging: »Heute wird keiner mehr drangsaliert, keiner hat mehr Angst vor dir - eher hat man Angst um dich, wie du bis zum Anschlag dicht unter der Neonlicht-Tankstellen-Reklame sitzt.«

»Es ging nicht ohne Gewalt«

Unter dem Hashtag baseballschlaegerjahre trendeten auf Twitter kürzlich Erzählungen von Betroffenen rechter Gewalt der 1990er Jahre. National befreite Zonen revisited, das verdrängte Jahrzehnt nach der deutschen Wiedervereinigung kommt mit voller Wucht hoch - und liefert Erklärungen dafür, weshalb in den damaligen Zentren rechter Schläger und Hools heute AfD und Pro Chemnitz zusammen auf 45 Prozent der Stimmen kommen. Der Mythos, Rechtsextreme habe es vor der Zerschlagung der ostdeutschen Industrie nicht gegeben, wird auf diese Weise demontiert; unabhängig davon, dass deren Erstarken unmittelbar mit dem Kollaps der DDR-Sozialstrukturen zusammenhängt.

Dabei bestimmt nicht nur Opferrhetorik die Beschreibungen jener Jahre. »Was bei Erzählungen gerade untergeht, ist Abwehr der Nazis, die es an vielen Orten gab. Dank Antifaschist*innen. Und ja, es ging nicht ohne Gewalt«, schreibt etwa die thüringische Landtagsabgeordnete der Linkspartei, Katharina König-Preuss. Doch die Realität Tausender Jugendlicher in Ostdeutschland war nicht von Gegenwehr geprägt, sondern von unfreiwillig unfriedlicher Koexistenz mit den Rechten. »In meinem Hauseingang kaum Gutes los, Freunde werden stumpf, werden skrupellos«, singt der Rapper Trettmann in dem Song »Grauer Beton« über die Nachwendejahre in der südsächsischen Stadt. »Fast hinter jeder Tür lauert ’n Abgrund, nur damit du weißt, wo ich herkomm’.«

Trettman, Jahrgang 1973, wuchs im Chemnitzer Fritz-Heckert-Gebiet auf, einer der größten Plattenbausiedlungen der DDR, in der die Mitglieder des rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zwischenzeitlich untertauchten. Als das Trio 1998 eine Unterkunft in der Friedrich-Viertel-Straße 95 bezog, stand in dem einstigen Vorzeigeneubaugebiet schon jede zweite Wohnung leer. Die Zeiten, als hier dem sozialistischen Ideal zufolge Arbeiter neben Professoren wohnen sollten, waren lange vorbei; zementiert wurde die rechte Hegemonie durch den Exodus Tausender nach Westdeutschland. »Combat 85« nannte man das inzwischen abgerissene Gebäude in Anspielung auf die militante rechtsextreme Gruppe Combat 18; sechs Neonazi-WGs hausten dort vor zwanzig Jahren.

»Ich denk’ heut noch oft zurück an meine Straße, an die Alten und die Kids aus meiner Straße, aus der Platte, die aus meiner Etage«, rekapituliert Trettmann in »Grauer Beton« die Zeit, als die Grenzen zwischen Rechten auf der einen sowie Gruftis, Skatern und Sprayern auf der anderen Seite verliefen, oft in denselben Jugendklubs. »Lieber schnell leben, ruhelos, statt Abstellgleis, kein Zielbahnhof«, singt Trettmann.

»Man hat uns vergessen«

Dass der Kampf zugunsten der Neonazis ausging, hat unter anderem mit der sozialen Deklassierung zu tun, die sich durch die innerdeutsche Arbeitsmigration in Gegenden wie dem Fritz-Heckert-Gebiet verfestigte - und die durch verheerende Westimporte wie das Konzept akzeptierender Jugendarbeit weiter konsolidiert wurde. »Man hat uns vergessen dort, Anfang der neunziger Jahre, desolate Lage, jeden Tag mit der Bagage«, so Trettmann drei Jahrzehnte später.

Die Trostlosigkeit des Heckert-Gebiets erlebte ich selbst, als ich dort 1994 als junger Journalistenschüler für drei Monate hinzog. Mein Praktikum bei der einst auflagenstärksten DDR-Regionalzeitung, der »Freien Presse«, hatte ich gezielt gewählt - fünf Jahre nach dem Mauerfall wollte ich nicht nur wissen, wie die Menschen in den neuen Bundesländern tickten, sondern das auch ganz bewusst im einstigen Karl-Marx-Stadt erfahren. Diesen Sommer, ein Vierteljahrhundert später, kam ich zum ersten Mal zurück nach Chemnitz, um über die Landtagswahlen in Sachsen zu berichten.

Eine Reise in die eigene Vergangenheit, am Vorabend des neuen deutschen Herbsts, der die AfD in Brandenburg, Thüringen und Sachsen mit mehr als zwanzig Prozent in die Parlamente brachte. Undenkbar in den von freiheitlichem Aufbruch geprägten Jahren nach dem Mauerfall, in denen ich mich politisierte - bei den Protesten gegen den Golf-Krieg 1991 noch als Schüler; in den Jahren der Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sowie der Anschläge von Mölln und Solingen als Zivildienstleistender und Student. Antirassistische Demonstrationen standen in diesen Jahren auf der Tagesordnung, gepaart mit einem Internationalismus, in dem nostalgische Verklärung von Ché Guevara und den lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen natürlich nicht fehlen durfte.

»Kids aus Übersee waren Ikonen«

Spuren internationaler Solidarität auf den Trümmern des ersten sozialistischen Staats auf deutschem Boden zu finden hatte ich mir bei meiner Entscheidung für den Praktikumsplatz in Chemnitz erhofft. Dass die Salvador-Allende-Straße mitten durchs Heckert-Gebiet verlief, bestätigte mich in dieser Haltung; die Gesichter nach der Wende im Land gebliebener Vertragsarbeiter aus Mosambik, Vietnam und Kuba im Stadtbild auch. »Kids aus Übersee waren unsere Ikonen«, singt Trettmann über seine Jugend.

Doch einen solidarischen Internationalismus konkret mit Leben gefüllt haben diese Projektionen nicht, sie halfen bestenfalls, das Grauen der Kriege auf dem Balkan zu verdrängen. Schon der Golf-Krieg hatte die Hoffnung auf eine rasche Friedensdividende nach dem Ende der Blockkonfrontation gründlich zerstört. Als dann im Januar 1994 im Regenwald von Chiapas ein mexikanischer Wiedergänger Chés als Anführer einer indigenen Aufständischenarmee auftauchte, genügte das vielen Linken, die den Wunsch hegten, revolutionäre Kämpfe am anderen Ende der Welt solidarisch zu unterstützen - ohne näheren Blick auf die Verwerfungen auf dem eigenen Kontinent. Inklusive mir: Ein redegewandter Namensvetter an der Spitze einer Guerilla, noch dazu schön postmodern als Subcomandante tituliert, was wollte man mehr?

Dass der Krieg auf dem Balkan da schon in sein viertes Jahr ging und der Genozid in Ruanda unter den Augen von UN-Blauhelmen vorbereitet wurde, nahm die außerparlamentarische Linke ohne nennenswerten Protest hin. Bezugspunkt blieb ein angeblich drohendes viertes Reich; die faschistoiden Tendenzen, die sich in den ausländerfeindlichen Anschlägen in Ost- wie Westdeutschland ausdrückten, genügten auch mir als Beleg dafür. Doch manchmal verstellt der strenge Blick auf das eigene Land eben auch eine offene Sicht auf das Elend im Rest der Welt. Und im Rückblick neigt man dazu, selbst das lange Jahrzehnt vor 9/11 unter das seitdem alles überlagernde Analyseraster des Kriegs gegen den Terror zu legen.

»Auf und davon«

Meine Rückkehr nach Chemnitz wirft deshalb mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt. Vier ostdeutsche Länderparlamente, in denen die Rechtsextremen jeden vierten Abgeordneten stellen, die rassistische Hetzjagd von August 2018, das breite Netzwerk zur Unterstützung des NSU 20 Jahre zuvor - nichts davon dürfte einen überraschen, der hier Zeit verbrachte nach der Wiedervereinigung. Und tut es eben doch, zumal vor dem Hintergrund einer Universitätsstadt mit mehr als 3000 ausländischen Studierenden und einer lebendigen Community aus früheren Vertragsarbeitern und Neuankömmlingen aus aller Welt.

Wie vor 25 Jahren war es deshalb wieder eine Auslandsreise im eigenen Land. Nicht weil wir nicht dieselbe Sprache sprächen, sondern weil sich Westdeutsche weiterhin viel zu wenig für Ostdeutschland interessieren. Zwei eigene Geschichten gehen weiter, allenfalls die Richtung hat sich nach Mauerfall und Wiedervereinigung geändert. »Freiheit gewonnen, wieder zerronnen«, textet Trettmann in »Grauer Beton« düster. »Auf und davon, nicht noch eine Saison, auf und davon, nicht noch eine Saison.«

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