Wisst ihr’s schon?

Wir haben Menschen gefragt, wie sie die Wende erlebten und was sie für ihr Leben bedeutete.

  • Protokolle: Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 18 Min.

Dankbar für die Wende

Demonstration am 4. November 1989 in Ost-Berlin
Demonstration am 4. November 1989 in Ost-Berlin

Ich habe die Grenzöffnung erst einmal gar nicht mitbekommen. Ich war damals auf der LPG arbeiten, das lief im Zwei-Schicht-Betrieb, und habe erst davon gehört, als ich zu Hause angekommen bin. Da lief dann die ganze Nacht der Fernseher. Meine Frau und ich hatten gemischte Gefühle, später kam auch die große Freude, aber zunächst war da eine große Unsicherheit. Wir hatten vier sehbehinderte Kinder und in der DDR gab es in unserem Kreis keine geeignete Schule, deswegen mussten wir sie auf ein Internat in Berlin schicken. Aus dem Grund bin ich 1983 zu einer LPG in der Nähe von Berlin gekommen, wo ich sehr unzufrieden war. Trotz meines Studiums in der Landwirtschaft habe ich keine angemessene Position erhalten und mich daher geweigert, das Studium abzuschließen. Ich habe Redeverbot auf Betriebsversammlungen erhalten, und noch nach der Wende musste ich Geld an die LPG zurückzahlen.

In der Zeit nach der Maueröffnung ist mir eines aufgefallen: Das schlechte Reden über die jungen Leute. In der LPG haben sie nicht verstanden, dass die mal ein, zwei Tage nicht zur Arbeit kamen, weil sie den Westen kennenlernen wollten. Diese Abfälligkeit hat mich sehr aufgeregt. Der LPG-Vorsitzende hatte sein schönes Häuschen in Buckow am See und vorher schon ein anderes Leben gehabt. Wir dagegen sind mit unseren vier Kindern mit Müh und Not zurande gekommen, im Winter mussten wir bei minus 15 Grad zum Doktor fahren. Wir bekamen auch kein ausreichend großes Auto. Ich erinnere mich noch, irgendwann in den 80er Jahren habe ich einen Brief an das ZK der SED geschrieben, in dem ich um einen Kleinbus gebeten habe. Naiv wie ich war, habe ich den Schabowski in einem Treppenhaus überreicht. Der hat ihn wahrscheinlich in den nächsten Papierkorb geworfen. Und der LPG-Vorsitzende ist mit einem großen Betriebsauto herumgefahren. Ich habe die Wende daher mit einer Portion Schadenfreude gesehen.

Ich bin 1991 »glücklicherweise« arbeitslos geworden, so wie die gewirtschaftet haben, konnte das nicht weitergehen, das war ja schon für »normale Leute« ersichtlich, dass das so nicht funktionieren konnte. Ich hätte mir nur gewünscht, dass die Folgen größer gewesen wären für die Verantwortlichen zu DDR-Zeiten. Meiner Meinung nach hätte viel mehr aufgearbeitet werden müssen, nicht nur die Stasi-Akten. Es gab führende Persönlichkeiten, die vorsätzlich missgewirtschaftet und die Unternehmen zugrunde gerichtet haben. Darunter gelitten haben die Arbeiter.

Peter Hübner, geb. 1958, ist im Jahr 2000 für einen Arbeitsplatz in der Landwirtschaft mit seiner Familie nach Norwegen ausgewandert. Heute arbeitet er dort in der Tischlerei einer Behindertenwerkstatt.

Angst vor dem Militär

Ich war Mitglied der Kommunistischen Partei der Türkei und mein Mann und ich waren gesuchte Personen. Ein Jahr lang lebten wir in Istanbul im Untergrund, bevor wir das Land verlassen mussten. Ich habe erst am Flughafen in Sofia erfahren, dass wir in die DDR kommen würden. Dort wurden wir wie inoffizielle Diplomaten - bevorzugt - behandelt, die SED hat alles geregelt.

Als die Grenzen geöffnet wurden, war ich gerade zu Hause. Ich war in der Zeit schwanger und mein erstes Gefühl war Angst. Angst davor, was jetzt passieren wird, vor militärischen Einsätzen. Wir hatten überhaupt keine Informationen über die Positionen in der BRD und wussten auch nicht, wie die SED reagieren würde. An diesem Abend ging es uns sehr schlecht. Wir haben mindestens eine Woche lang nicht die Wohnung verlassen. Soweit ich mich erinnern kann, haben wir in dieser Zeit kaum miteinander gesprochen. Wir haben Nachrichten geguckt, versucht herauszufinden, was passiert. Und wir haben uns Gedanken gemacht - was passiert mit uns? Wo gehen wir hin? Wir hatten in Westberlin überhaupt keine Kontakte, obwohl es dort eine ziemlich starke Parteiorganisation von der türkischen KP gab.

Kadriye Karci
Kadriye Karci

Als klar war, dass es keine militärischen Einsätze geben würde, sind wir irgendwann vorsichtig rausgegangen. Aber trotzdem war diese Zeit sehr schwierig. Auf dem Weg in die Uni lief ich über den Lustgarten, da waren damals viele westdeutsche Firmen mit großen Lkws und darum herum standen die Menschen an - für Bananen, für Wiener, für Kaffee. Das wurde den Menschen einfach vom Lkw herunter zugeworfen. Als ob die Menschen in der DDR verhungert wären. In dem Moment wollte ich eigentlich nur nach Hause und weinen. Ich wollte sagen, nein, dieses Bild stimmt einfach nicht. Aber das lief monatelang. Überall wo es große Plätze gab, standen diese Lkws.

Ich habe die Türkei für eine sozialistische Gesellschaft verlassen. Doch im Nachhinein haben wir viel über die Partei und den »real existierenden Sozialismus« erfahren. Zum Beispiel, dass man Südafrika mit Waffen versorgt hatte. Oder, dass jeder Vierte ein Stasi-Mitarbeiter war. Das hat mich sehr enttäuscht. Die Arbeiterklasse brauchte einen Staat, die Partei war ein Werkzeug. Doch dann wurde die Partei zum ersten Subjekt. Der Staat wurde ein Parteistaat. Den Menschen haben wir vergessen.

Ich bin immer noch traurig. Ich lebe jetzt auch gut. Aber darum geht es nicht. Wir wollten eine menschliche Gesellschaft. Und die Gesellschaft, in der wir leben, ist nicht menschlich.

Kadriye Karci, geb. 1961, hat in der Türkei Jura und in der DDR marxistisch-leninistische Philosophie studiert. Heute arbeitet sie als Projektmanagerin in Berlin.

Der Traum vom Westen

Woran ich mich erinnere - da war ja schon vieles wie heute. Ich bin 1988 geboren und damit sozusagen im Westen aufgewachsen. Die Unterschiede wurden eher von außen auf mich projiziert. Durch die Erfahrung meiner Familie weiß ich auch, dass in der DDR andere Werte vermittelt wurden, was zum Beispiel Gemeinschaftlichkeit angeht. Und das war nach der Wende auf einmal nichts und nichtig.

Als meine Eltern von der Grenzöffnung hörten, haben sie sich zuerst gefreut, doch dann kam die Enttäuschung. Ihre Hoffnung war gewesen, sich ein neues Leben aufzubauen. Sie hatten diese Traumvorstellung vom Westen - dass der Westen bunt ist, dass es dort allen gut geht, so wie im »amerikanischen Traum« -, die ist dann einfach weggebrochen. Die ersten Jahre nach der Wende war es noch okay, aber Mitte der 90er fing es dann an: 1995 wurde die Werft geschlossen, meine Eltern wurden arbeitslos und wussten nicht mehr, ob sie die Miete bezahlen können.

Auch Freundschaften sind in der Wendezeit weggebrochen, und meine Eltern standen plötzlich alleine da. Als Kind habe ich das gar nicht so wahrgenommen, ich war relativ zufrieden. Aber ich habe gemerkt, wenn meine Eltern sich gestritten haben, wenn wir Schulden hatten. Wenn man so lange mit diesem Unsicherheitsgefühl lebt, überträgt sich das. Wir wurden ganz einfach erzogen, aber trotzdem gab es den unterschwelligen Druck mitzuhalten. Als ich meine Lehre abgeschlossen hatte, wurde ich sofort arbeitslos. Meinen Vater hat das total traurig gemacht. Er ist ganz anders aufgewachsen. Aber jetzt konnte man dieses Proletarierding nicht mehr ausleben.

Gleichzeitig hatten wir diesen Außenseiterstatus. Leute machten sich lustig, weil wir holprige Straßen haben oder nicht richtig Auto fahren. So habe ich das als Kind erlebt. Wir hatten Verwandte in Dortmund, die haben immer geprotzt und gemeint, kauft euch doch mal das. Aber die wussten gar nicht, wie es ist, wenn man ständig die Arbeit verliert.

Ich glaube, dass man mit dieser unerfüllten Traumvorstellung, diesem Bruch auch das fehlende Vertrauen und die extreme Verschlossenheit unter den Menschen hier im Osten erklären kann. In der DDR wurde man darauf getrimmt, seinen Weg zu gehen. Das ist durch die Wende weggebrochen, man konnte nicht mehr anwenden, was man gelernt hatte. Man musste seinen Weg sozusagen neu erlernen.

Christoph Skiebe
Christoph Skiebe

Christoph Skiebe, geb. 1988, kommt aus Bad Doberan bei Rostock. Er ist ausgebildeter Maler und lebt heute in Berlin, er ist arbeitslos.

Plötzlich Geld verdienen

Ich komme aus der Kirchenbewegung und habe mich dort sehr schnell politisiert. Ein Auslöser war für mich - da war ich 15 - eine ganz simple Aktion: Eines Samstags haben wir uns getroffen, um unser Kirchengelände von Unrat und Müll zu befreien. Und es dauerte keine halbe Stunde, da stand ein Polizist bei uns und fragte, was wir da machen. »Aufräumen«, haben wir gesagt. Doch was andere Subbotnik nannten, wurde uns als oppositionelle Aktion zugerechnet, einfach weil es auf dem Kirchengelände stattfand. Später haben sich dann aus den Friedensgebeten die Montagsdemos entwickelt. Als wir dort nicht mehr riefen »Wir wollen raus«, sondern »wir bleiben hier«, wurden die Repressalien seitens der Polizei stärker. Das Gefühl aus dieser Zeit kann ich heute noch so hochholen, da kriege ich immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Ab Anfang November kam dann die Marlboro-, Mallorca- und Golf-GTI-Fraktion - so haben wir sie immer genannt - zu den Demos, mit ihrer Losung »Wir sind das Volk«. Wir haben uns angeguckt und gesagt, wir sind also offenbar nicht das Volk. Wir waren es vorher nicht und sind es jetzt auch nicht. Und noch ein bisschen später sind die Rechten da aufmarschiert. Ich kann mich noch gut daran erinnern, an dieses Gefühl, wieder Verlierer zu sein.

Am 9. November klingelten abends Nachbarn bei uns und sagten: »Wisst ihr’s schon? Die Grenze ist offen!« Das war gar nicht so spektakulär. Doch dann veränderte sich im Grunde alles. Für mich war der Bruch genau andersherum, ich habe plötzlich Geld verdient. Ich wollte schon als Elfjährige Journalistin werden. Doch durch mein politisches Engagement hatte ich in den 1980ern praktisch Berufsverbot. Noch im November 1989 habe ich in meinem früheren Verlag wieder angefangen und wurde kurze Zeit später in die Redaktion versetzt. Dann kam Neven DuMont aus Köln höchstselbst, hat uns alle eingekauft, ein paar Leute aus dem Westen dazugesetzt und dann haben wir eine Boulevardzeitung gemacht. Ich musste plötzlich in Leipzig Prominente finden, die es dort noch gar nicht gab. Also habe ich außergewöhnliche Leute gesucht und gefunden: Leute, die zig Schlangen in ihrer Wohnung hatten oder ein ganzes Zimmer voller Modelleisenbahnen, oder den ersten Stripper von Leipzig - lauter skurrile Geschichten.

Auch politisch schien zu dieser Zeit noch alles offen. Im Neuen Forum gab es Überlegungen, Ideen und Träume, wie eine neue Republik aussehen könnte. Aus heutiger Sicht war das ziemlich romantisch - wir hatten keine Ahnung, wie Kapitalismus konkret aussieht. Wir hätten uns zu dem Zeitpunkt nie träumen lassen, wie Westunternehmen Ostbetriebe aufkaufen, um sie dann zu schließen. Wir haben uns eine Wirtschaft vorgestellt, die tatsächliches Volkseigentum bedeutet und entsprechende Mitbestimmung, zum Beispiel durch private Zusammenschlüsse oder Genossenschaften. Aber wir waren ja alle keine Wirtschaftsprofis. Wir haben nicht gewusst, wie Wirtschaft und Gesellschaft im Einzelnen gestaltet werden müssen, damit es funktionieren kann. So ist die anfängliche Energie ziemlich schnell verpufft.

Gundula Lasch, geb. 1964, hat in der DDR in verschiedenen Jobs, u. a. bei der Volkssolidarität gearbeitet. Heute lebt sie als freie Journalistin in Leipzig und Bonn. Sie ist Mitglied im dju-Bundesvorstand.

Eine ungeheure Bereicherung

Gundula Lasch
Gundula Lasch

Wir haben damals vom Tempodrom aus einen Betriebsausflug ins Fichtelgebirge gemacht. Genau an diesem Abend, dem 9. November, sind wir nach Hause gefahren. Und da haben wir es schon gesehen: Es ist wirklich nicht übertrieben, bestimmt 50, 60 Kilometer Trabis auf der Autobahn, die sich in Richtung des Grenzübergangs bei Rudolphstein bewegten. Ich musste damals wirklich weinen. Diese endlose Schlange! Und die Freude darüber, dass die raus können! Sich 60 Kilometer anstellen - um nach Hof zu kommen - das ist doch total berührend.

Das Tempodrom stand damals im Tiergarten, in der Nähe der Grenze. Und als wir zurück in Berlin angekommen waren, sind wir gleich alle raus aus dem Bus und zur Mauer gelaufen. Ich kann mich erinnern, da saßen wir dann oben auf der Mauer, zusammen mit den Leuten aus dem Osten. Zu der Zeit gab es noch keine offene Stelle, aber wir saßen einfach da oben, und es war wie ein Festival - nur ohne Musik.

Doch dann ging es los: Alle standen Schlange für diese blöden 100 Mark. Was ich auch verstehen kann, aber ich hab gedacht, wie kann man die Leute so locken. Aber generell habe ich mich sehr darüber gefreut. Ich war eingefleischte Westberlinerin, das ist damals eine Spitzenzeit gewesen. Durch dieses Inseldasein gab es dort eine ganz starke kreative Szene. Doch es war auch sehr gedrängt, man musste immer durch die Transitzone und alles ordentlich beantragen.

Und als es die Mauer nicht mehr gab, war da plötzlich ganz viel Freiraum. Man konnte auch ins Umland fahren. Meine Ahnen kommen daher, das war für mich auch eine Art nach Hause kommen. In ganz Berlin gab es plötzlich so viel Freiraum, die ganzen Clubs, das gab es ja vorher alles nicht. Und das mischte sich dann auch mit den Ostberlinern, das war natürlich eine ungeheure Bereicherung. Am Anfang hat man sich noch erkannt; die hatten ganz andere Sachen an. Alle hatten diese verwaschenen Jeans an, ich weiß auch nicht, wo sie die herhatten. Und die Frisuren waren auch anders, es war eine ganz andere Kultur.

Natürlich hat mich das gefreut, dass die Grenze nicht mehr da war! Aber dass die Mauer sofort abgerissen wurde, das fand ich total falsch. Man hätte die doch ein ganzes Stück stehen lassen müssen, als Zeitzeugnis, nicht nur die Eastside Gallery. Das hat doch 40 Jahre existiert. Stattdessen wurde jedes Stückchen Stein verkauft.

Irene Moessinger, geb. 1949, zog 1970 nach Westberlin. Sie gründete 1980 das Tempodrom. Von ihr erschien das Buch »Berlin liegt am Meer« bei Galiani.

Alte Geschichten

Als ich am Morgen des 10. November an der Arbeit angekommen bin, kam mir ein junger Mann entgegen, aus der DDR, und hat berichtet, dass die Grenze offen ist. Die Freude war groß - für ihn. Ich selbst war nicht so sehr begeistert, weil ich gedacht habe, meine Vergangenheit holt mich jetzt ein, jetzt kommen die alle her. Und alles ist wieder so wie 1977, als ich geflohen bin aus diesem Land. Dazu muss man wissen, als am 13. August 1961 die Grenze geschlossen wurde, wurde meine Familie getrennt. Mein Vater hatte damals eine Bäckerei im Westteil der Stadt, unsere Familie wohnte aber im Ostteil, in Hoppegarten. Mein Vater - mit westdeutschem Pass - fuhr trotzdem zur Arbeit, er sagte zu meiner Mutter: »In einer Woche ist der Spuk vorbei.« Das währte dann doch etwas länger. Wir anderen kamen aus Hoppegarten nicht mehr heraus. Wir konnten nicht einmal mehr so einfach nach Ostberlin fahren, weil Hoppegarten schon zur Zone gehörte.

Irene Moessinger
Irene Moessinger

Im Laufe der Zeit haben wir immer wieder Anträge auf Familienzusammenführung gestellt, doch die wurden stets abgelehnt. Erst als meine Mutter Brustkrebs bekam, hat es geklappt, sie durfte 1975 mit meiner jüngsten Schwester ausreisen. Doch zu mir sagte man: Nein, wir haben Ihre Ausbildung bezahlt, Sie dürfen hier nicht raus. Das war’s dann, ich blieb mit meiner anderen Schwester in Hoppegarten.

Als ich da so alleine lebte, habe ich einen Franzosen in Ostberlin kennengelernt. Gérard arbeitete bei Schering als Chemielaborant. Er konnte als Franzose immer einreisen und 24 Stunden bleiben und so führten wir eine Liebesbeziehung trotz der Grenze. 1976 gab es ein Gesetz, dass auch die Alliierten die DDR um 24 Uhr verlassen mussten, das machte uns ein Zusammenleben unmöglich. Doch er nahm sich Urlaub in der Fabrik und blieb illegal bei mir. Eines Tages kam ich nach Hause und fand ihn dort tot vor, er hatte sich erhängt. Meine Wohnung wurde durchsucht und danach gab es darin nichts mehr von Gérard - als hätte es diesen Menschen nie gegeben. Er hatte mir früher erzählt, dass sie ihn immer wieder angesprochen haben, dass er doch bei der Staatssicherheit mitarbeiten soll, weil er immer wieder einreiste. Und im Nachhinein denke ich, vielleicht war da doch etwas. Doch im Grunde weiß ich gar nichts. Die französische Botschaft verhalf mir schließlich zur Ausreise, 1977 bin ich mit fünf Mark, einem Visum nach Frankreich und einer Fahrkarte nach Plouha in den Zug gestiegen - und in Westberlin wieder ausgestiegen.

Am 9. November 1989 wurde das alles wieder aufgerollt. Doch mein damaliger Mann hat sich sehr gefreut. Wir sind jedes Wochenende von einem Ort zum anderen und haben uns die Museen und das Umland angeschaut, das war auch schon toll. Einfach so losfahren. Das hat Spaß gemacht.

Anna Jendreyko, geb. 1951, war in der Kirchenverwaltung tätig. Heute lebt sie als Rentnerin in Berlin.

Die Imperialisten provozieren nur

Als ich im Westfernsehen die Berichterstattung über die Grenzöffnung sah, hab ich gedacht, die Scheiß-Imperialisten provozieren nur. Die wollen, dass die Leute jetzt in den Westen gehen. Ich habe den Fernseher ausgemacht und bin eingeschlafen. Am nächsten Tag bin ich ganz normal zur Arbeit gegangen, ich war damals Assistent an der Hochschule für Ökonomie, und dort hat mir mein Fakultätsleiter gesagt, dass die Grenze offen ist und die DDR faktisch nicht mehr existiert.

In der DDR war mein Aufenthaltsstatus gesichert gewesen. Aber was würde nun passieren? Ich war 1981 als überzeugter Kommunist nach Ostberlin gekommen, um marxistische politische Ökonomie zu studieren. Schon in der Türkei hatte ich Deutsch gelernt und ging dann zunächst für vier Jahre nach Köln. Mit 24 kam ich über Verbindungen der Kommunistischen Partei der Türkei in die DDR. Die KP war seit ihrer Gründung verboten und für die Türkei war ich hier sozusagen nicht existent. Mein Studium hier war toll, es war eine sehr internationalistisch gemischte Gruppe.

Doch jetzt wusste niemand, was passieren würde. Ein paar Tage oder sogar Wochen haben wir den Betrieb an der Hochschule noch aufrechterhalten. Doch die Hochschule war als rotes Kloster verschrien, und es war klar, dass eine faktische Abwicklung des Lehrkörpers kommen würde. Ich habe nur gedacht, das kann doch nicht alles gewesen sein. Dass ich mein Land verlasse und meine Jugend hier verbringe und dann gibt es das alles plötzlich nicht mehr - das hat mir nicht gepasst. Als ich meinem Chef an der Hochschule gesagt habe, dass ich Ende Oktober kündige, um in der PDS anzufangen, hat er mich gefragt, ob ich wahnsinnig bin. Doch ich wollte retten, was noch zu retten war. Noch in der Wendezeit wurde ich DDR-Bürger und dann sozusagen als Inventar übernommen. Im November 1990 wurde ich Ausländerbeauftragter der PDS, zu einem Zeitpunkt, als die PDS gerade 44 000 Leute entlassen hatte.

Mit der Öffnung der Grenzen kamen auch mehr Migranten in den Ostteil und es passierten Dinge, die es in der DDR so vorher nicht gegeben hatte. Natürlich gab es Rassismus und Beschimpfungen von sogenannten Vertragsarbeitnehmern. Aber generell hatte ich die Sicherheit, dass der Staat zu mir steht. Gregor Gysi hat mal in den 1990ern in einer Talkshow gesagt, ihm ist staatlich verordneter Antifaschismus lieber als gar kein Antifaschismus. So war das auch mit dem Rassismus. Natürlich gab es Rassisten. In Rostock oder Hoyerswerda gab es richtige volksfestähnliche rassistische Angriffe, die sind nicht über Nacht entstanden. Aber solange der Staat der DDR funktioniert hat, war so etwas unter Kontrolle. Mit der Wende offenbarten sich hier fehlende Strukturen: Weil Rassismus verboten war und damit offiziell nicht existieren durfte, gab es auch keine nichtstaatliche, praktizierte antirassistische Politik.

Tanju Tügel, geb. 1957, war von 1990 bis 2019 Mitarbeiter der Bundesgeschäftsstelle der PDS und der Linkspartei. Heute lebt er als Rentner in Berlin.

Wie ein Wunder

Gleich am 10. November bin ich mit meiner Familie und Freunden zur Polizei gegangen. Wir haben uns eine Genehmigung geholt und sind mit unseren Trabis auf die Autobahn Richtung Berlin-Rudow gefahren, das war damals die nächstgelegene offene Stelle in der Mauer. Dort haben wir unser Auto stehen gelassen und sind zu Fuß weiter - über den Todesstreifen an den Panzersperren vorbei.

In den Nachrichten hatten wir von den 100 Mark Begrüßungsgeld gehört. Wir stellten uns an einer Bank in die Schlange, und nach Stunden kriegten wir alle 100 Mark, sogar mein ungeborenes Baby. Danach sind wir ein bisschen durch die Läden gegangen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich da eine Schachtel Erdbeeren gekauft habe; es war ja November, und in der DDR gab es zu jeder Zeit nur das, was die Natur hergab.

Nach der Grenzöffnung haben in Großenhain, wo ich gewohnt habe, in Turnhallen und auf der freien Wiese in Zelten provisorische Läden aufgemacht. Von einem Tag auf den anderen gab es die ganzen Westprodukte - es roch plötzlich alles so wie früher im Intershop. Eigentlich war es eine schöne, aufregende Zeit; es gab auch in den Jahren danach noch große Feste zum 3. Oktober, der wurde damals richtig als Feiertag begangen. Für meine Eltern war es etwas ganz anderes, sie waren damals Mitte, Ende 50 und haben zur Wende viel mehr verloren als ich mit meinen 24 Jahren. Obwohl ich meine Arbeit verloren habe, habe ich die Wendezeit eher positiv gesehen. Ich habe damals auch die CDU gewählt, weil ich die Wiedervereinigung wollte. Kohl hat in Dresden vor der Frauenkirche geredet, und ich fand das toll. Für mich war die Möglichkeit, dass Deutschland wieder ein Land wird, wie ein Wunder.

Heute kann man sich die ganze Welt ansehen, es gibt alles und viel zu viel zu kaufen, aber viele um einen herum sind unzufrieden, das ärgert mich. Das war es ja, warum viele damals wegwollten. Weil wir eingesperrt waren. Und weil man nicht sagen durfte, was man denkt. Viele sind vor der Wende rüber und in Auffanglager gekommen. Und jetzt sind gerade auch viele aus meiner Generation völlig ohne Verständnis, wenn Flüchtlinge kommen und Hilfe brauchen, und erinnern sich gar nicht mehr, dass sie vor der Wende gegangen sind, nicht etwa weil sie vor Krieg fliehen mussten, sondern oft aus wirtschaftlichen Gründen. Das macht mich betroffen, dass das alles so vergessen ist.

Tanju Tügel
Tanju Tügel

Leonore Wycisk, geb. 1965, hat vor der Wende in einer Papierfabrik gearbeitet. Heute lebt sie in Dresden und ist in der Altenpflege tätig.

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