- Kultur
- 1989
Die Nacht der Nächte
OSSIS TAGEBUCH
6. November 1989: Alle reißen sich um das heutige »ND«. Auf der Titelseite ist das neue Reisegesetz abgedruckt. Während der Lektüre verfinstern sich die Gesichter der Kollegen. Erwin entrüstet: »Haben die det immer noch nich kapiert? Wir wollen unbeschränkte Reisefreiheit, keine Gnade.« Er liest vor: Anträge für Dienst- und Privatreisen sind innerhalb von 30 Tagen zu entscheiden, in dringenden Fällen von drei Arbeitstagen, bei ständigen Ausreisen innerhalb von drei, spätestens sechs Monaten; ablehnende Entscheidungen sind schriftlich mitzuteilen. Gisela empört der Satz: »Die Genehmigung einer Privatreise begründet keinen Anspruch auf den Erwerb von Reisezahlungsmitteln.« Die Sekretärin fragt: »Soll ich im Westen verhungern? Auf einer Parkbank pennen? Mir nimmt dort doch niemand unsere Aluchips ab.« Erwin: »Ab wann tritt denn dat in Kraft?« Manne spottet: »Das tritt 2014 in Kraft. Da können alle DDR-Bürger in den Westen, weil die DDR dann 65 wird.« Ich verweise auf die Überschrift im »ND«: »Zur öffentlichen Diskussion«. Bis zum 30. November können Vorschläge unterbreitet werden. Erwin: »Ick werd denen meine Meinung geigen.« Er notiert sich die angegebene Adresse: Ministerrat der DDR, Klosterstraße 47, 1020 Berlin, Kennwort: Reisegesetz.
8. November: Zeit der Rücktritte. Gestern trat der Ministerrat unter Willi Stoph zurück, heute das alte Politbüro. Und wir waren fast live dabei. Am Spätnachmittag gab Manne eine Weisung der Betriebsparteileitung kund: Jeder, der mit der laufenden Produktion nichts mehr zu hat, marschiert zum ZK-Gebäude. Wir trotteten, wie immer, brav los. Obwohl nicht in der SED, schloss Erwin sich an: »Det lass ick mir nich entgehen.« Am Werderschen Markt staunten wir nicht schlecht über die Massen: Jeder Berliner Betrieb scheint Genossen losgeschickt zu haben. Auf Transparenten steht: »Für eine Parteiführung, die auf das Volk hört«, »Wende ohne Umkehr«, »Ehrlichkeit ist die beste Politik«. Reden werden gehalten. Die Schriftstellerin Helga Königsdorf verlangt: »Schluss mit dem Kommandosystem von oben nach unten.« Ein Arbeiter aus dem VEB Secura klagt, die Parteiführung habe sich von der Basis gelöst. Ein schlaksiger Zausel kritisiert die »Politik des Nachtrabs«. Manne kennt ihn: »Michael Brie von der Humboldt-Uni. Ein Philosoph.« Plötzlich, ich traue meinen Augen nicht, steht mein Nachbar auf der Treppe und ruft mit geballter Faust: »Wo ein Genosse ist, da ist die Partei!« Die Sprechchöre, die Krenz vor die Tür wünschen, werden lauter. Schabowski kommt, verliest die Namen der neuen Politbüromitglieder; Beifall bei Werner Eberlein und Hans Modrow. Es ist schon stockfinster, als jemand fordert, Krenz solle sich endlich blicken lassen. Jenen nun wiederum kennt Erwin: »Det is Gregor Gysi, ein Anwalt, der untersucht die Polizeiübergriffe vom Oktober.«
9. November: Saß den ganzen Abend vor der Glotze. Heulte. Weiß nicht, warum. Freudentränen waren es nicht, eher ein diffuses Gefühl der Angst.
10. November: Einige Kollegen fehlten heute. Manne kam später, sektselig. Erwin: »Du bis ja beschwipst.« Worauf der Parteisekretär sagte: »Darf man doch wohl sein, nach der Nacht der Nächte.« Dann berichtete er, dass er gleich nach der »Tagesschau« mit der ganzen Familie zur Bornholmer fuhr; der Sohn habe wegen seines Beins in Gips quer auf der Hinterbank des Trabis gelegen, das steife Bein lugte durch das heruntergeleierte Fenster. Muss ein irres Bild gewesen sein. Während Manne weiter über seinen Trip nach drüben plappert, knurrt Erwin: »Dass ausgerechnet der als Erster von uns rübermacht?!« Gisela verlässt schweigend den Raum. Ich ahne, warum. Vor einigen Monaten hatte Manne sie noch abgekanzelt, weil sie erklärt hatte, auch mal Paris sehen zu wollen. Kalle
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