Jetzt wird ausgerechnet mit DIESEM Wort abgerechnet

Das Wort »ausgerechnet« ist die neue Pest im Journalismus, findet Tim Wolff

  • Tim Wolff
  • Lesedauer: 3 Min.

Das unangenehm intensive Studium des deutschen Medienunwesens, das die Jahre als »Titanic«-Redakteur mit sich bringen, kann sogar zu Abneigungen gegen einzelne Wörter führen. Eines der schlimmsten ist: »ausgerechnet«. Ein an sich harmloses Wort, das aber qua Definition ein seltenes sein sollte.

Aber die außergewöhnlichen Fügungen, die es markiert, gibt es im deutschen Journalismus im Gegensatz zur Realität zuhauf: »Wie die SPD verfängt sich auch die Union im internen Clinch. Und ausgerechnet die Grünen machen beiden vor, wie Geschlossenheit geht« heißt es bei der »FAZ« vermutlich, weil die Grünen ein chaotischer Sauhaufen sind, jedenfalls für die »FAZ« und ihre Leserschaft. Bei »Spiegel online« findet man dies: »Es ging bei ›Anne Will‹ um Geisterstrom und Dunkelflauten - und um die Frage, wie sicher der deutsche Wohlstand noch ist. Wer den Streit schlichtete? Ausgerechnet Markus Söder.« Ja, unvorstellbar, dass Markus Söder auch mal zur Schlichtung fähig ist. Der »Focus« meldet: »Neues grünes Machtkalkül: Ausgerechnet Habeck bügelt wilde Enteignungsfantasien ab.« Spätestens bei diesem Beispiel wird die Beliebigkeit der Verwendung von »ausgerechnet« offenbar. Denn ernsthaft annehmen, dass der marktschwärmerische Machtstreber Robert Habeck eigentlich »wilde Enteignungsfantasien« (was immer das so genau sein soll) besitze und es deswegen überraschend sei, dass er sie »abbügelt«, kann nur, wer sich die Wirklichkeit für sein Ressentiment sprachlich wild zurechtbügelt - wie eben der »Focus« für sein rechtes Publikum, für das ein Habeck ein Linksradikaler ist.

»Ausgerechnet« ist ein gar nicht mehr bewusstes Dummstellen, der kürzeste Weg zur Sensation, wo eigentlich keine ist. »Greta Thunberg muss Atlantik überqueren - ausgerechnet Eurowings bietet Hilfe an«, schreibt die »Schweriner Volkszeitung«, als sei sie unfähig, das Kalkül eines solchen Angebots wahrzunehmen. Mit »Ausgerechnet« stellt man kenntnisfeindliche Naivität her und macht die Handelnden dümmer, als sie sind, damit man selbst und seine Käuferschaft klüger dastehen.

Wenn wiederum der »Focus« schlagzeilt: »Nazis marschieren ausgerechnet am 9. November«, tut er so, als wäre so ein Marsch ein Zufall und nicht etwa gezielte Provokation, und empört sich mehr über eine Datumswahl als über die Existenz von Nazis. Ja, fast könnte man der Formulierung entnehmen, dass Nazimärsche an anderen Tagen nicht wirklich schlimm sind.

»Ausgerechnet« ist vor allem ein Verkaufswort. Behauptete Koinzidenz zur Kundengewinnung, das Clickbaitsignal für alle, die verinnerlicht haben, das Journalismus nicht etwa der Übermittlung von Neuigkeiten und der Präsentation von Gedanken dient, sondern dem Verkauf all dessen - weswegen dieses Wort besonders häufig auf Seiten wie »Der Westen« auftaucht, dem Schreihalsportal der Funke-Mediengruppe, neuerdings kombiniert mit brüllender Versalschreibung: »Dortmund will mehr Fahrräder - doch ausgerechnet von DORT kommt Kritik«, »FC Bayern München: Kehrt ausgerechnet ER als Trainer zurück?«, »A2 und A43: Achtung! Ausgerechnet DAS erwartet Autofahrer jetzt zum Wochenstart«, »Dieter Bohlen: Öffentlich gedemütigt - warum tut gerade SIE ihm das an?«, »CDU-Politiker äußert sich zur AfD - ausgerechnet ER klatscht Beifall« und so weiter und so fort.

Ich möchte also ein weiteres Mal, obwohl ich es bereits mehrmals erfolglos getan habe, aufrufen: Meidet dieses Wort und jeden, der es verwendet! Obwohl, nicht immer jeden; ganz selten ist es ja dann doch einen Schmunzler wert, wie vor Kurzem in der »Welt«: »Welche Rolle ausgerechnet Bayern in der Evolution des Menschen spielte«.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.