- Der Heppenheimer Hiob
- Überstunden
Allianz der Überarbeiteten
Nicht nur in der Politik arbeiten die Menschen bis zum Umfallen - Zeit, dass sich die Überarbeiteten zusammenschließen
Plötzlich war die Gilde der Politikerinnen und Politiker ergriffen. Der Stress des eigenen Berufsstandes, dokumentiert durch die Schwächeanfälle der Bundestagsabgeordneten Matthias Hauer (CDU) und Simone Barrientos (LINKE), stimmte nachdenklich. Die Belastung sei höher geworden, mahnte die Zunft, das Pensum dramatisch gestiegen. In den Netzwerken wird darüber freilich gespöttelt und geschimpft, die Politik jammere ja nur auf hohem Niveau - wobei die politischen Arbeitstiere es einem wirklich einfach machen, zu so einer Reaktion zu gelangen. Karl Lauterbach (SPD) etwa, der einen besorgten Tweet absetzte, war beispielhaft. Er schrieb: »Die Arbeitsbedingungen im Bundestag sind weder gesund noch gut für die Gesetze, die wir machen. So kann es nicht bleiben.«
Sieht das bei anderen Berufsfeldern so viel anders aus? Sagen nicht Pflegekräfte seit Jahren, dass es so nicht bleiben kann? Und die Polizei? Der Zoll? Die Lehrer und Ärzte? Und überhaupt alle, die in trauter Regelmäßigkeit Überstunden leisten müssen? Auch sie mahnen an, dass die Arbeitsbedingungen krankmachen.
Vor drei Jahren zählte man hierzulande 1,729 Milliarden Überstunden, die geleistet wurden. Die Mehrzahl davon unentgeltlich. Beklagen sich all diese und noch viele andere Berufsgruppen nicht seit vielen Jahren, weil es so nicht weitergehen kann? Seither ist aber wenig bis nichts passiert. Die Politik nimmt es zur Kenntnis und lässt sich trotzdem nicht aus der Reserve locken. Kaum aber schwächelt ein Berufskollege, wirbt man um Anteilnahme und Verständnis, mahnt Änderungen an.
Man darf sich also nicht wundern, wenn das Publikum nicht sonderlich viel Mitleid für die Workaholics aus den Parlamenten zeigt. So läuft unsere Gesellschaft nämlich: Jeder denkt nur an sich. Man interessiert sich nicht für die anderen.
Natürlich arbeiten Berufspolitiker viel – zu viel. Es lohnt sich immer wieder Roger Willemsens Buch »Das hohe Haus« zur Hand zu nehmen. Für das letzte Projekt vor seinem Tod besuchte er ein Jahr lang, also während der Sitzungswochen, den Bundestag. Er saß dort täglich stundenlang auf der Besucherempore und beobachtete die Szenerie, notierte etwa die kleinen Besonderheiten (kein Kaugummi auf den Besucherrängen) sowie den Wahnsinn, der speziell bei fachpolitischen Sitzungen zu beobachten war und dem man als normaler Bürger nicht mehr folgen konnte.
Willemsen kam zu der Erkenntnis, dass parlamentarische Arbeit kein Zuckerschlecken sei, sondern zeitintensiv und fachbezogen sein kann – und im Regelfall auch ist. Dass im Bundestag oft nur wenige Abgeordnete sitzen, habe nicht mit der Faulheit der Zunft zu tun, sondern damit, dass viele Sitzungen für spezielle Ausschüsse und Fachpolitiker vorgesehen sind. Da sitzen eben nur diejenigen aus den Fraktionen drin, die sich zum Beispiel mit der Milchverordnung auseinandersetzen müssen. Alle anderen bleiben in ihrem Büro.
Natürlich hat Willemsen gekonnt ambivalent vom politischen Betrieb geschrieben. Vom Idealismus, den zwar irgendwie alle Politiker als Grund ihrer Berufswahl angeben, den man aber nicht mehr spürt. Oder wie sie sich zwischen Lobbyisten aufreiben – oder zwischen ihnen aufblühen. Als eine Parlamentarierin über die »Kultur- und Kreativwirtschaft« sprach und meinte, man müsse in Kulturschaffende investieren, um so Arbeitsplätze zu erhalten und zu schaffen, mokierte sich der Autor: »Auch hier wird deutlich: Die Frage der Zukunft ist synonym für Rendite.«
Doch bei aller berechtigten Kritik: Sich populistisch hinzustellen und zu urteilen, man habe es mit einer Bande von Faulpelzen zu tun – das geht nicht. Im Bundestag wird viel gearbeitet, wie überhaupt in allen Sparten in diesem Land ein intensives Arbeitsethos vorherrscht. Nun kann sich jede Seite hinstellen und verächtlich und spöttisch auf die andere Seite deuten.
Oder aber man entwickelt Verständnis füreinander, solidarisiert sich in einer Allianz der Überarbeiteten und fasst den gesellschaftlichen Entschluss, dass es so nicht bleiben kann. Und zwar für alle: für Arbeitnehmer, den öffentlichen Dienst und Politiker. Die Haltung, wonach jeder stets meint, der andere arbeite nicht genug, ist jedenfalls keine gesunde Basis für etwaige Veränderungen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.