Das Deutsche an Breslau

Die schlesische Metropole und ihr Stadtschreiber aus Deutschland

  • Velten Schäfer, Wroclaw
  • Lesedauer: ca. 5.5 Min.

Keine Stadt im westlichen Polen steht ihrer deutschen Geschichte so offen gegenüber wie Wroclaw. Inzwischen scheinen es in gewisser Hinsicht eher die Deutschen zu sein, die damit Probleme haben.

Als Maciej Lagiewski vor einem Vierteljahrhundert begann, über den alten jüdischen Friedhof von Wroclaw zu schreiben, benutzte er ein Pseudonym. Er hatte 1981 seine Stelle verloren und auch sonst genug Ärger mit der Partei, da wollte er auf Nummer sicher gehen, sagt der 52-Jährige. Denn wer in der Volksrepublik in Wroclaw zu sehr an die jüdische Vergangenheit gerührt habe, sei an der deutschen kaum vorbeigekommen: an einem weitgehend assimilierten städtischen Judentum, an seinen deutschen Grabinschriften, den deutschen Namen, sogar deutschen Symbolen.
Wer aber wiederum über diese Spuren des alten, toleranten Preußen gesprochen hätte, der hätte auch fragen müssen, wo nach 1945 die Bewohner der schlesischen Metropole geblieben waren - und woher die neuen kamen. Dies aber hätte wiederum bedeutet, über die Aussiedlung der Polen aus der heutigen Ukraine sprechen zu müssen, ein Thema, das in der Volksrepublik beredt beschwiegen wurde. So kam es also, dass Lagiewski, heute Generaldirektor der Museen von Wroclaw, bis 1989 als Stanislaw Marcuse auftrat, wann immer es um seinen geliebten Friedhof ging.
Lagiewski schmunzelt heute, wenn er von diesen geschichtspolitischen Untiefen erzählt. Er schmunzelt überhaupt recht oft, wenn er sich die Zeit nimmt, selbst über das fünf Hektar große baumbewachsene Areal zu führen. Niemand kennt den Friedhof besser als er; wie ein Wasserfall kann er Anekdoten erzählen, Familiengeschichten rezitieren, auf Schön- und Besonderheiten hinweisen. Und wenn seine Zuhörer Deutsche sind und über alte Hitlerwitze lachen können, benutzt er dabei selbstverständlich einen Namen, der noch im Wroclaw der achtziger Jahre allergische Reaktionen ausgelöst hätte: Breslau.
Die Zeiten haben sich geändert. Auch Rafal Dutkiewicz, Oberbürgermeister der 600 000 Einwohner zählenden schlesischen Metropole, benutzt den alten Namen ganz selbstverständlich, wenn er in hervorragendem Deutsch über seine Stadt spricht.

Nationalität einer Großstadt
Und mehr noch: An der prominentesten Stelle der Stadt, dem alten Marktplatz, wiesen Ende Mai riesige Plakate auf den Auftritt eines Deutschen hin, der ein Buch über die »Polonisierung« der Stadt nach 1945 geschrieben hat auch das wäre vor zwanzig, vielleicht auch vor zehn Jahren undenkbar gewesen. Gregor Thums Buch über die »verschwundene Stadt«, 2003 im Düsseldorfer Schauspielhaus präsentiert, ist vor einigen Wochen auch auf polnisch erschienen und die Stadt hat dies zum Anlass genommen, den deutschen Slawisten und Kulturhistoriker, der inzwischen an der Universität von Pittsburgh arbeitet, zum offiziellen »Botschafter« zu ernennen.
Thum, Jahrgang 1967, ist noch immer erstaunt über die freundliche Aufnahme seines Buches, »dass sich viel mit polnischer Propaganda auseinandersetzt«. Eigentlich, sagt der breitschultrige Mann, dem man den Deutschen von weitem ansieht, habe er Angst gehabt vor den Reaktionen der polnischen Kollegen.
Sein Buch vergegenwärtigt nicht nur noch einmal, dass Breslau bis 1945 eine fast ausschließlich von Deutschen bewohnte Stadt war. Das Buch widerlegt auch den Mythos, dass die meisten der neuen polnischen Bewohner der Stadt zuvor selbst aus dem abgetrennten Osten Polens vertrieben worden seien. Thums Berechnungen zufolge trifft dies für nur 20 Prozent zu; der Rest kam aus Gegenden, die bis heute zu Polen gehören.
Die komplizierte Umbenennung aller Straßen und Plätze, eine neu akzentuierte Stadtgeschichte, die sich stark auf das polnische Mittelalter bezieht und die preußische Neuzeit in den Hintergrund treten lässt - nüchtern zeichnet Thum nach, wie sich die Nationalität einer Großstadt verändern lässt. Der Grund für die positive Aufnahme des Buches besteht wohl darin, dass er die »Polonisierung« beschreibt, ohne wehmütig auf dem einst deutschen Charakter der Stadt zu beharren - und sicher auch darin, dass er sich überdeutlich von den Vertriebenenverbänden distanziert. Erika Steinbach, Tochter eines Besatzungsoffiziers, als Vertreterin einer Opfergruppe? »Das ist«, sagt Thum, »als wäre ein SS-Mann Leiter der Gedenkstätte Auschwitz.«
In Polen stärken solche Sätze die Glaubwürdigkeit. »Ich kann fast jeden Satz unterschreiben«, sagt etwa Cezary Gmyz von der konservativen Zeitung »Rzeczpospolita«, als früherer Chefhistoriker des rechten Magazins »Wrpost« übertriebener Deutschfreundlichkeit unverdächtig.

Zeugnisse eines Selbstmordes
»Probleme mit der deutschen Vergangenheit der Stadt haben heute gewissermaßen eher die Deutschen als die Polen« - so sieht es General-Museumsdirektor Lagiewski. Täglich drängen sich Busse mit deutschen Nostalgie-Touristen in der Innenstadt rund um den Rynek, den übersanierten Marktplatz im Zentrum. Dabei ist, was es dort zu sehen gibt, noch nicht einmal besonders deutsch. Die Breslauer Stadtväter, schreibt Thum, orientierten sich nämlich bei der Rekonstruktion des Platzes ganz bewusst nicht am Stadtbild kurz vor dem zweiten Weltkrieg, sondern am frühen 19. Jahrhundert, als die Bebauung noch eher an die Habsburger erinnerte, zu deren Reich die Stadt bis 1742 gehörte.
Auf Lagiewskis Friedhof aber lassen sich die deutschen Gruppen nur selten blicken. Und wenn, dann seien sie Sozialdemokraten und wollten das Grab Lassalles sehen. Dabei könne gerade dieser Friedhof den Deutschen den »kulturellen Selbstmord« vor Augen führen, den der Nazismus mit sich brachte. Etwa 30 000 Juden gab es einst in der Stadt, die allermeisten davon verstanden sich als Deutsche jüdischen Glaubens. Noch 1936 demonstrierten jüdische Frontsoldaten des Ersten Weltkrieges mit all ihren Orden vor dem Gräberfeld - genützt hat es ihnen nichts. Lagiewski, der mehrere tausend Grabmäler auf dem Areal wissenschaftlich beschrieben hat, rattert gewichtige Namen aus Kultur und Wissenschaft herunter: Da ist die Familie Pringsheim, aus der Katia Mann stammt. Da ist Ferdinand Julius Kohn begraben, der Doktorvater Robert Kochs, der als erster Deutscher ein Mikroskop besaß. Da liegt Heinrich Graetz, der große Historiker des Judentums, und da ist die 1998 vom Papst heilig gesprochene katholische Konvertitin Edith Stein. Wie »deutsch« dieser Friedhof ist oder war, machen schon die Kreuze klar, die dort zu finden sind, Eiserne Kreuze auf den Gräbern von Gefallenen - und Urnengräber, die im jüdischen Ritus nicht vorgesehen sind. Als Grabspruch standen Klassiker hoch im Kurs, Goethe ist gleich mehrfach vertreten: »Edel sei der Mensch ...«. Auf eine ganz andere Art als viele der Holocaust-Gedenkstätten in Polen ist dieser Friedhof ein Ort der Beklemmung. Das 1942 geschlossene Areal erinnert nicht daran, was getan wurde - sondern daran, was dadurch unwiderbringlich verloren ging. Vielleicht ist dies für die oft älteren Deutschen, die in die Stadt kommen, tatsächlich keine sehr attraktive Sehenswürdigkeit. Können sie sich doch im Rest der Stadt endlich auch einmal als Opfer der Geschichte fühlen.
Für Thum ist Wroclaw Avantgarde; nirgendwo sonst in Westpolen werde der deutsche anteil an der Vergangenheit so entspannt gesehen wie an der Oder. Zur Verdeutlichung erzählt er eine Parabel: Irgendwo auf dem Land habe in jüngerer Zeit ein Deutscher sein altes Häuschen besucht. Gespenstisch sei es gewesen, fast unverändert - und doch seit langem von Polen bewohnt. Nach anfänglichem Mißtrauen sprachen der alte und der neue Hausherr gemeinsam dem Wodka zu - und als der Deutsche im Folgejahr wiederkam, sah das Häuschen ganz anders aus. Erst nach einer »Übergabe«, will er sagen, können die neuen Besitzer wirklich übernehmen. Es ist eine schöne Geschichte - ob sie wirklich stimmt, weiß auch der Historiker nicht. In Wroclaw aber, so w...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.