Herbst 1938, Winter 2019
Ich klage an
Draußen wirbeln die Blätter im Oktoberwind, gleiten abwärts, an den Synagogenmauern vorbei, auf den Schulhof. Im schwindenden Sonnenlicht bleibt uns im Klassenzimmer bald nur der goldene Davidstern an der Stirnwand deutlich. Ich sehe mich um und sehe nur Lücken - wir waren achtzehn, hier in dieser Klasse der jüdischen Schule, jetzt fehlten sieben. Miriam ist fort, ist wie die anderen nach Polen verschleppt. Noch am Abend zuvor habe ich sie im Zimmer hinter der Schusterwerkstatt ihres Vaters beim Gebet angetroffen. Sie hat den Finger an die Lippen gelegt und meine Fragen erstickt: »Frag nicht, frag nicht … wir müssen weg und du bleibst hier.«
Esther und Chanele Bialik sind weg, auch Saul und Jizchak Kuszinski, und Ben Schlomo Weiß. Nur Chaim Stern ist ihnen entkommen, ist mit dem Fahrrad auf und davon in Richtung Holland. Ins Reclam-Büchlein von Goethes »Faust«, das er mir zum Abschied ...
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