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Indien erhebt sich gegen Gewalt an Frauen
Wieder erschüttern Sexualverbrechen mit tödlichem Ausgang den Subkontinent
Nach mehreren Femiziden protestieren in Indien seit einer Woche Zehntausende Menschen und fordern Sicherheit für junge Frauen, die Bestrafung der Täter, effektiveres Polizeieingreifen bei Anzeigen und ein gesteigertes gesellschaftliches Bewusstsein für das Problem. Ende vergangener Woche wurde eine Frau, nachdem sie eine Anzeige wegen Vergewaltigung gemacht hatte, auf dem Weg zu ihrer Aussage von dem mutmaßlichen Täter und weiteren Männern angegriffen und angezündet. Die Frau starb im Krankenhaus nach einem Herzstillstand.
Zuvor hatte der Mord und die Gruppenvergewaltigung einer 27-jährigen Tierärztin in Hyderabad Ende November zu Protesten geführt. Auch das Parlament hatte über den Fall diskutiert, ein Abgeordneter hatte dabei zu »Lynchjustiz« gegen die in Untersuchungshaft sitzenden Täter aufgerufen. Vergangene Woche wurden die mutmaßlichen Mörder dann bei einem Fluchtversuch bei einer Begehung des Tatorts von der Polizei erschossen. Die staatliche Menschenrechtskommission hat Ermittlungen gegen die Beamten eingeleitet. Die Tötung der Verdächtigen sende »ein falsches Signal an die Gesellschaft«, erklärten die Menschenrechtsaktivisten. Hunderte feierten unterdessen den Tod der mutmaßlichen Täter, der Vater der ermordeten Tierärztin erklärte, es sei »Gerechtigkeit« an seiner Tochter geübt worden.
In diesen Tagen jährt sich zum siebten Mal ein ähnlich brutales Verbrechen, das Indien aufrüttelte und weltweit für Schlagzeilen sorgte. In Delhi wurden damals die 23-Jährige Jyoti Singh und ihr Freund auf der Heimfahrt von einem Kinobesuch von sechs Männern überfallen. Jyoti Singh erlag inneren Verletzungen, die sie bei der Gruppenvergewaltigung erlitten hatte.
Der Fall war so etwas wie ein Weckruf, der das Land zweifellos verändert hat. Eine Protestwelle bis dato ungekannten Ausmaßes rollte durch Indien. Selbst Prominente wie ein früherer Armeechef und der bekannte Yoga-Guru Baba Ramdev schlossen sich den Demonstrierenden an, die in Delhi teilweise gewaltsame Zusammenstöße mit der Polizei erlebten.
Der unmittelbare Erfolg waren mehrere Gesetzesverschärfungen in Bezug auf Vergewaltigungsverbrechen sowie die Einrichtung von einem halben Dutzend Spezialgerichten, die sich vordergründig mit Schnellverfahren in solchen Fällen befassen sollen. Das indische Parlament folgte seinerzeit weitgehend den Empfehlungen einer eingerichteten Kommission. In einem zweiten Schritt folgte die Politik 2015 dem öffentlichen Druck hinsichtlich einer Gesetzesänderung, wonach in Vergewaltigungsfällen nunmehr auch Jugendliche über 16 Jahren nach Erwachsenenstrafrecht belangt werden.
Die Jahresstatistik der Behörden weist für 2017 insgesamt 315 215 Verbrechen gegen Frauen aus, darunter über 66 000 Entführungen und 32 559 Vergewaltigungsfälle sowie 10 059 Fälle, in denen die Opfer noch minderjährig waren. Dies ist jedoch nach wie vor nur die Spitze des Eisbergs, denn nur ein Teil der Übergriffe kommt tatsächlich zur Anzeige.
Zwar hat sich die Bereitschaft der Betroffenen und ihrer Familien, zur Anzeigenerstattung eine Polizeiwache aufzusuchen, seit 2012 deutlich verstärkt. An etlichen Orten, gerade mit engagierten Vorgesetzten, sind auch die Beamten inzwischen sensibilisiert, die Vorwürfe ernst zu nehmen. Trotzdem kommt es noch allzu oft vor, wie jetzt wieder in Hyderabad, dass polizeiliche Hilfe Suchende vertröstet oder regelrecht abgewiesen werden. In Delhi hat die Regionalregierung zudem im Juni beschlossen, 150 000 zusätzliche Überwachungskameras zu installieren, um Orte sicherer zu machen. Frauen dürfen nun kostenlos mit Bus und Bahn fahren.
Mohammed Mahmood Ali, der Innenminister der Regionalregierung von Telangana, dessen Staatenhauptstadt Hyderabad ist, hatte sich vor der Erschießung der mutmaßlichen Mörder bei ihrem Fluchtversuch für ein schnelles Verfahren ausgesprochen. Wegen Überlastung der Gerichte werden Prozesse häufig erst nach Jahren eröffnet. Die Polizeiführung hat zudem drei Beamte jener Wache, bei der die Familie vergeblich um sofortige Hilfe nachsuchte, vom Dienst suspendiert. Schwester und Mutter der getöteten Tierärztin kann dies nicht trösten, sie fordern einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel: »Man kann die Schuldigen bestrafen, so hart man will - es ändert sich nichts, wenn es nicht ein deutliches Umdenken gibt«, wurde die Schwester in indischen Medien zitiert.
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