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- Jahresrückblick
Vermeidet das M-Wort!
Was Sie über 2019 noch sagen dürfen: Die komplette alphabetische Liste.
Aktionskunst: künstlerische »Intervention« in politische Vorgänge und Verhältnisse, die nur solange zu begrüßen ist, wie sie keine direkte Wirkung zeitigt: Nachdem jetzt das Innenministerium eine etwas ältere Aktion der Kunstgruppe »Peng!« in den Vorschlag übersetzte, dass Passbilder ab sofort unter Behördenaufsicht anzufertigen seien, ist ja gar nicht auszudenken, wie welches Ministerium auch immer auf die jüngste Aktion des »Zentrums für Politische Schönheit« mit der vermeintlichen Holocaust-Opfer-Asche reagieren könnte.
Barrikadenromantik: heroische Gefühlswallung im Angesicht politisch motivierter Straßenmilitanz, die sich im hiesigen Leitmedienwesen zuverlässig Bahn bricht, wenn die richtigen Steine fliegen. Merke: Fliegen die falschen Steine, ist Gewalt nie eine Lösung, sondern einfach kriminell.
Cyberterror: Die Verbreitung von Schrecken und Schaden via Internet wird mit dem Vorwurf der Verschwörungstheorie bestraft, sofern der abwegige Verdacht geäußert wird, jemand sehr Mächtiges könne im Rahmen eines südamerikanischen Regierungsaustauschversuches anderswo den Strom fernabschalten – und mit lebenslanger Haft bedroht, sofern man endlich jemandes habhaft wird, der u.a. derlei Ambitionen aufgedeckt hat. »Journalismus ist kein Verbrechen«, sagt dazu jüngst nicht die deutsche Menschenrechtskanzlerin auf wiederholtes Bitten des Vaters des Betroffenen, sondern die Inoffizielle Weltbeauftragte für Meinungsfreiheit, Pamela Anderson, im – Fun Fact – Interview mit der World Socialist Web Site. Nebenstrecke: Wie hieß nochmal dieser »Übergangspräsident«?
Demenzerscheinung: Dass das Herbizid Glyphosat im agrarisch-praktischen Einsatz womöglich krebserregend ist, weiß man schon länger. Nun aber ergab ein Feldversuch im Kölner Raum, dass auch die theoretisch-behördliche Befassung mit der Substanz nicht harmlos ist, sondern gravierende Erscheinungen kollektiver Demenz nach sich ziehen kann. Denn dass dieses v.a. von einem prominenten deutschen Konzern produzierte Unkrautvernichtungsmittel hierzulande trotz gegenteiliger Absichtserklärung der Groko ohne Einschränkung für ein weiteres Jahr vertrieben werden darf, ist laut Erklärung der Zulassungsbehörde nicht etwa Folge eines »willkürlichen und inhaltlich fragwürdigen Handelns (…) wegen politischer Vorgaben«! Sondern nur Ausdruck des rechtsstaatlichen Prinzips, »dass Anträge von Bürgern und Unternehmen, die in einem Genehmigungsverfahren nicht rechtzeitig entschieden werden können, nicht einfach abgelehnt werden dürfen«!
Eskolaboration: Internet-Hashtag, der das tragische Wesen der deutschen Sozialdemokratie auf den Punkt bringt, indem sich die »Eskabolation« als Kampagnen-Schlagwort des neuen Überraschungsführungsduos auch lautlich vom Anklang an »Eskalation« nach und nach entfernt und sich unmerklich dem Fremdwort für das annähert, was jenes Wesens Elend ausmacht, nämlich konstruktiv-kritische Zusammenarbeit im Rahmen des angeblich Möglichen.
Freitagsdemos: bewegungspolitisches Phänomen im Umfeld bundesdeutscher Gymnasien, das sich der Satire schon dadurch weitgehend entzieht, dass die, die darüber Witze reißen, überwiegend verbissene Flachpfeifen sind oder Dieter Nuhr heißen. Einer aber geht schon: Das utopische Potenzial der Mobilisierungen zeigt sich am deutlichsten darin, dass sich die Hamburger Polizei im Juli für die Räumung einer Sitzblockade entschuldigte.
Grundgesetztreue: Achtung! »Hasardspiel und Linksruck«!! Die SPD »verabschiedet sich von Hartz IV« und hat beschlossen, dass »ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November umgesetzt werden« soll, »nach dem die Jobcenter die monatlichen Leistungen nicht stärker als um 30 Prozent kürzen dürfen«!!! (alle Zitate: FAZ).
Hargesheim: Jahrzehntelang saß man der These auf, alle wirklich großen Menschheitsprobleme seien mit nur einer einzigen Zahl zu beantworten. Doch 2019 fand sich die Lösung eines Problems, hinter dem Douglas Adams’ Fragen nach »dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest« spielend verblassen: Die Herkunft der extraterrestrischen Geldzuweisungen an ausgewählte AfDisten aus Baden-Württemberg ist geklärt! Quittiert wurden sie nicht bei den Bilderbergern, sondern schwerpunktmäßig von ganz normalen kleinen Leuten rund um die rheinische Ortsgemeinde Hargesheim – wodurch sich deren Name als neues »42« qualifiziert.
Immobilienwirtschaft: gütige Lobby einer gemeinwohlorientierten Wohnraumpolitik, die in Gestalt des Vorzeigeunternehmens »Deutsche Wohnen S.E.« seit einigen Wochen weder Mühen noch Mittel scheut, um in einem unaufgeregten »Berlin-Dialog« ganz ohne »Feindbilder« einen »Pakt für faires Wohnen« voranzubringen, um wie gesagt »faires Wohnen für alle« zu gewährleisten, ohne »Klimaschutz und Mieterschutz« gegeneinander auszuspielen. Wenn dabei noch stets klar ist, dass »eine Wohnung kein übliches Wirtschaftsgut« sein dürfe, sind natürlich alle begeistert! Nur eine Frage: Wäre es dann nicht einfacher, den Laden gleich zu enteignen?
Jagdfahrzeuge: Noch nie wurde der SUV so vielstimmig als gemeingefährlicher Klimakiller gebrandmarkt und als Penisverlängerung verspottet wie 2019 – und noch nie wurden in Deutschland so viele Straßenpanzer verkauft wie im vergangenen Jahr. In diesem Sinne also bitte: Schluss mit den E-Scooter-Witzen!
Kunstpreisweltrekord: Solange der »Preis« von Premium-Herrenfußballdarstellern über demjenigen von Kunstobjekten liegt, ist der Kapitalismus noch nicht völlig durchgeknallt: Immerhin generieren diese Leute fortlaufend Umsatz. Dass das Geld-Ware-mehr-Geld-Wesen aber weiterhin auf bestem Weg in die Gummizelle ist, belegt der heuer von 90 auf 91 Millionen Dollar gesteigerte Rekordpreis für ein Objekt eines noch lebenden Künstlers. Vor Schadenfreude ist indes zu warnen, denn der Käufer der betreffenden Ein-Meter-Edelstahlfigur eines Comic-Hasen kann das System jederzeit in etwas noch Abwegigeres ändern lassen: Sein Sohn amtiert als US-Finanzminister.
Laientheater: Seit die Deutschen 2014 einen Satiriker ins Europaparlament gewählt haben, der dort die freilich unerschöpfliche Pointe »Unschuldiger Laie mit gesundem Menschenverstand trifft Brüsseler Lobbysprechblasenwesen« in Endlosserie aufführt, sind sie so stolz auf ihren Humor, dass sie bei der »Schicksalswahl« von 2019 gleich einen zweiten Spaßvogel draufgelegt haben. Zum Glück hat dieser jenen Witz durch deinen Beitritt zur Mainstream-Grünen-Fraktion nun bereits so weitgehend totgeritten, dass er nur durch seine Ernennung zum Spaßkommissar noch zu retten wäre. Denn die Wahl von 2024 wird sicherlich noch viel schicksalhafter als die vergangene.
M-Wort: politischer Begriff, dessen Gebrauch rund um einen gewissen Behördenkomplex in der Berliner Invalidenstraße von der Ethikkommission des Bundestages untersagt wurde, um spontanen Retraumatisierungsprozessen bei dort beschäftigten Straßenverkehrsbepreisungs- und EU-Rechtsexperten auch sprachlich vorzubeugen, nachdem die betreffenden Akten im Geheimschrank verschwunden sind. Die Kosten für die Durchsetzung des Worttabus sollen bei jährlich rund 5 Millionen Euro liegen – was von der Kommission angesichts der dort in Sachen M. verzockten Beträge als vernachlässigbare Größe gewertet wurde.
Nichteröffnung: Berliner Spezialität eines gesellschaftlichen Phantom-Events, die 2019 fast ins Wasser gefallen wäre: War das vergangene doch so ziemlich das einzige Jahr der vergangenen Dekade, für das eine Eröffnung des »Flughafens« tatsächlich niemals angekündigt worden war! Doch sprang spontan das »Humboldt-Form« ein, dessen Nichteröffnung im September mit viel Gauck und Gloria begangen werden konnte.
Oligarchennichtenmoment: verführerische Situation, die machtgeile Kleinstaaten-Möchtegern-Vizediktatoren in angeregtem Ambiente zur Offenbarung ihrer geheimsten Wünsche und Fantasien verleiten kann. Merke allerdings: nur echt mit gut geputzten Zehennägeln!
Prinzenrolle: Millionenfrage in der historischen Diskussion um den Beitrag von Friedrich Wilhelm Victor August Ernst – bis 1919 Kronprinz des Deutschen Reiches und von Preußen – zum Aufstieg Hitlers, stolz präsentiert von den Architekten des »Ausgleichsleistungsgesetzes« von 1994: Hat jener nun diesem »erheblichen« Vorschub geleistet (Peter Brandt, Stephan Malinowski)? Oder wollte er das zwar, war aber zu doof dazu (Christopher Clark)? Gutachten Sie selbst – aber lassen Sie sich nicht verklagen!
Quasselstrippe: Was hat der größte Präsident aller Zeiten davon, dass ihm als Social-Media-Experte in Chief nun just aus dem Telefonkabel im Oval Office ein politischer Strick gedreht werden soll? Noch mehr Reichweite auf Twitter. Das ist kein Witz, sondern seine Strategie zur wahrscheinlichen Wiederwahl.
Rentenreform: Frage an Radio Jerewan: »Trifft die Aussage zu, dass es sich bei der R. um die ultimative Mutprobe für fesche neoliberale Staats- und Parteichefs handelt, die mit der genaueren Ausarbeitung üblicherweise Personal der interessierten Finanzproduktindustrie beauftragen? « Antwort von Radio Jerewan: »Im Prinzip ja, außer in Ländern wie Deutschland, deren Populationen die vernünftigen Prinzipien der Marktwirtschaft hinreichend verinnerlicht haben« – zu Letzteren siehe auch Kunstpreisweltrekord.
Spendenflut: Selbst Atheismus und Kulturbanausentum schützten im April nicht davor, den Brand von »Notre Dame« bestürzend zu finden. Doch später im Jahr wurde klar, was der Herr im Himmel damit bezweckte: Die anfangs minütlich eingehenden Großspendenversprechen verliefen im Sande, während Normalbürger in die Taschen griffen – und die feuchten Wände noch immer einsturzgefährdet sind: So wurde die Katastrophe zur göttlichen Parabel auf die Immobilienwirtschaft.
Transitionsproblematik: Politischer Fachausdruck, der sich 2019 vor allem auf die Gemengelage bezog, die sich ergibt, wenn sich zwei Parteien in der Frage annähern müssen, inwiefern sie sich voneinander entfernen wollen. Die Paradoxie dieser in der Diplomatiegeschichte präzedenzlosen Ausgangslage wird 2020 zum fünften Jahr der sogenannten Verhandlungen über den britischen EU-Austritt machen. Und wer angesichts der im Sommer schon wieder dräuenden Terminprobleme den »Zombie-Brexit« oder Werwolf-Backstop fürchtet, vergegenwärtige sich den Kannibalexit, der jene Ausgangslage auf das Verhältnis von England zu Austritts-austrittswilligen Einheiten wie Schottland oder Liverpool übertragen und zum Thema der nächsten Dekade erheben wird!
Unterwanderung: Synonym für Infiltration, das 2019 vor allem hinsichtlich des Vordringens von Rechtsradikalen in allerlei Sicherheitsorganen benutzt wurde – und entschieden zurückzuweisen war! Denn wenn ein langjähriger Inlandsgeheimdienstchef in einer Talkshow zum Besten gibt, dass Anschläge auf Flüchtlingsheime nicht zwingend von einer rassistischen Gesinnung zeugten, sondern oft von rechtschaffenen Menschen »aus der bürgerlichen Mitte« begangen würden, die sich punktuell halt ein bisschen »radikalisiert« hätten, ist wohl eher von Überformung zu sprechen.
Volksdiener: literarische Idealfigur des aufrichtigen, unkorrupten, sach- statt machtorientierten und auch sonst rundum gefühlt gutartigen Politiker-Typus', die seit Friedrich II. von Preußen bis zu Wolodymyr I. von Kiew jederzeit und überall gefragt ist: Aber merke: Nicht das Fernsehstudio mit dem Präsidentenpalast verwechseln, sonst hat man wen an der Quasselstrippe, der sich im Wahlkampf offenkundig nicht auf Drogen hat testen lassen müssen.
Wortgewalt: Das seltene Gefühl, mit erheblicher publizistischer Reichweite hart kritisiert zu werden, ohne hierbei die eigenen Sprechblasen ausreichend gewürdigt zu finden, führte beim provisorischen Vorstand der hierzulande maßgeblichen politischen Partei im Frühsommer umgehend zu der Grundsatzfrage, wie man es wohl nennen müsste, wenn kurz vor einer Wahl dutzende »Zeitungsredaktionen (…) den gemeinsamen Aufruf ›Wählt bitte nicht CDU und SPD‹ starten« würden. Richtig: Meinungsfreiheit! Auch ohne Wackelkamera und Blauhaarfrisur.
X-Mas: Während fußlahme deutsche Rechtsradikale noch über die islam- und atheismusfaschistische Ersetzung der »Weihnachtsfeiern« durch »Winterfeste« lamentieren, hat der große Austausch längst stattgefunden: Menschen bis 35 ist die betreffende Familienfeier inzwischen ausschließlich als »X-Mas« bekannt. Und da sich dieses Wort zwar (mit etwas Mutwillen) noch mit »Christmas« assoziieren lässt, allgemein jedoch eher mit unterhaltungselektronischen Apparaten von X-Box bis neuerdings X-Turm verbunden wird, ist hiermit doch allen gedient!
Youtubismus-Facebookismus: Ungemein freshe politische Ideologie, die den mittlerweile etwas angestaubten Marxismus-Leninismus (ML) dahingehend beerbt, dass sie in deutlich zeitgemäßerer Form nach Enteignung strebt – wenn auch nur der mittelbaren und unmittelbaren Produzenten digitalen und sonstigen Bildmaterials, das jederzeit lizenzfrei im Internet verbreiten zu dürfen die Definition von Meinungsfreiheit darstelle. Da sich die Agenda des YF vom ML zugleich dahingehend abhebt, dass sie sich weitgehend mit den Interessen maßgeblicher Monopole deckt, wird trotz eines viel beklagten Rückschlags im Frühjahr 2019 sein Kampf mit Sicherheit noch lange weitergehen.
Zitiermaschine: Der Volkssport des ungefragten Doktorarbeitenlesens wird deutscher, also komplizierter, seit im Herbst eine Berliner Universität in einem prominenten Fall zwischen ›bestanden‹ und ›nicht bestanden‹ den Status ›überwiegend bestanden‹ eingeführt hat – was in einem prominenten Hamburger Fall aktuell die Frage aufwirft, in welchen Fällen dann auch eine im Zusammenhang mit dem Titelerwerb gegebene Erklärung, nicht mit Zitaten geschummelt zu haben, als ›überwiegend eidesstattlich‹ zu werten sei und wann eben nicht.
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