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Der Himmel über uns

Was soll man hören? Ein Beethoven-Vademecum

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 7 Min.

Werfen wir einen tapferen Blick auf alte und neue Einspielungen der Beethoven-Werke. Was gehört in die musikalische Hausapotheke, woraus kann ein Beethoven-Vademecum zusammengestellt sein?

Wer gute Gesamtaufnahmen der Beethoven-Sinfonien erwerben möchte, sollte zu den Einspielungen von Hermann Scherchen, von René Leibowitz mit dem Royal Philharmonic Orchestra (1961) oder von Michael Gielen mit dem SWR Sinfonieorchester (2000) greifen. Eine spannende und wichtige Interpretation gelang Mariss Jansons mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (2012), in der auch sechs Kompositionsaufträge an zeitgenössische Komponisten mit Bezug zu den Werken des Meisters zu hören sind. Und eine ganz aktuelle, sehr gute und dabei auch ausgesprochen preisgünstige Version ist die von Adam Fischer mit dem Danish Chamber Orchestra.

Und die Klaviersonaten? Sie sind gewissermaßen Beethovens musikalisches Tagebuch. Auch hier ist die Frage – will, soll man eine Gesamteinspielung erwerben? Meine erste Gesamtaufnahme war die von Friedrich Gulda aus dem Jahr 1968, und ich kehre bis heute immer wieder zu ihr zurück. Sein Beethoven-Spiel ist fesselnd, aufregend und »modern«. Schnelle Tempi, klar durchdachte Strukturen, da, wo es sinnvoll ist, »swingt« das ganz großartig, und man merkt, dass Gulda Jazz geliebt hat (man kann das wunderbar an der »Boogie Woogie«-Variation im zweiten Satz von op. 111 mit ihren ungebändigten Synkopen hören). Das atmet Freiheit, ist doch »werktreu« und sowieso von selbstverständlicher Virtuosität. Maßstabsetzend und bis heute nicht übertroffen. Dazu höre ich immer wieder Artur Schnabel aus den 1930er Jahren – eine mutige und radikale Interpretation, intellektuell und emotional. Und wenn man die nicht gerade wenigen falschen Töne, beispielsweise in der Hammerklaviersonate, hört, die bei heutiger Aufnahmetechnik natürlich nachträglich ausgemerzt worden wären, stellt man fest, dass es darauf letztlich nicht ankommt – die Töne fehlerlos spielen kann jeder, der über eine gewisse Technik verfügt, aber sie zu Musik formen, bedarf einer Durchdringung des Werks, und da gehört Schnabel neben Gulda zu den ganz Großen. Eine hervorragende (und dabei ausgesprochen preiswerte) aktuelle Einspielung stammt von Michael Korstick (2012). Und Emil Gilels oder Maurizio Pollini sind ebenfalls zu nennen.

Ich würde als Ergänzung (und Bewusstseinserweiterung…) auch unbedingt zu Aufnahmen auf historischen Klavieren der Beethovenzeit raten. Beethoven war ein Kind der beginnenden industriellen Revolution, er hat sich zeitlebens mit dem Klavierbau, dem darin liegenden Fortschritt und den sich aus den neuen Produktionsmitteln ergebenden kompositorischen Entfaltungsmöglichkeiten beschäftigt. Alexei Lubimov, der die berühmten Sonaten »Mondschein«, »Waldstein« und »Sturm« auf einem Erard aus dem Jahr 1802 und die drei letzten Klaviersonaten auf einem Graff von 1828 grandios und einzigartig eingespielt hat, behauptet nachvollziehbar, dass etwa die Waldstein-Sonate »auf einem modernen Klavier unspielbar« sei, weil die Extreme zu groß und beispielsweise die Sforzati bei einem modernen Flügel zu lang, zu stark und zu massiv seien. Tobias Koch hat die kompletten Klavierstücke ebenfalls auf historischen Klavieren hervorragend interpretiert (obacht, bei manchen Händlern läuft diese Aufnahme als »Sämtliche Klavierwerke«, was Blödsinn ist, die Sonaten sind ja nicht enthalten!).

Und dann gibt es jenseits der Gesamteinspielungen einen ganzen Kosmos von hörenswerten Interpretationen einzelner Sonaten – Artur Rubinstein hat 1965 eine Version der »Appassionata« op. 57 aufgenommen, die in ihrer rauschhaften Emotionalität einzigartig ist – ebenfalls hervorragend ist seine Interpretation des 3. Klavierkonzerts c-moll. Oder die eindringlich gespielten späten Sonaten von Solomon (Hammerklavier! op. 111!); Arturo Benedetti Michelangeli hat op. 111 faszinierend (und die Es-Dur-Sonate op. 7 recht merkwürdig) interpretiert; oder die letzten fünf Klaviersonaten, die Dina Ugorskaja, in diesem Jahr im Alter von nur 46 Jahren verstorben, in aller Tiefe ausgelotet hat – und wenn es nicht Gulda, Korstick, Schnabel und Solomon geben würde, könnte man ohne Weiteres behaupten, dass man zum Beispiel die Hammerklaviersonate nie wieder anders als in der Einspielung von Dina Ugorskaja hören möchte.

Die Beethoven-Interpretationen sind ein weites, nein: ein schier endloses Feld. Und wir haben noch gar nicht von den Streichquartetten gesprochen (hervorragende Gesamteinspielungen gibt es zum Beispiel vom Artemis Quartet und dem Belcea Quartet, das aktuell auch sämtliche Streichquartette im Pierre Boulez Saal aufführt) oder von den völlig zu unrecht weitgehend unbekannten Schottischen, Irischen und Walisischen Liedern, die noch ihrer Entdeckung harren und endlich auch den Weg in die Konzertsäle finden sollten (die geniale Aufnahme von Sophie Daneman, Paul Agnew, Peter Harvey, Alessandro Moccia und Jerome Hantai ist vergriffen, es gibt sie aber auf Streamingdiensten und als Download). Oder vom »Fidelio«. Für den Philosophen Ernst Bloch war das Trompetensignal im »Fidelio« eine Lieblingsstelle: Im »Prinzip Hoffnung« spricht Bloch vom »Stern der Müden«, der im »Fidelio« mal unterschwellig und scheu, mal »grell und hoch« stehe, bis dann zum Schluss als Rettung ein Symbol aus dem Requiem ertönt: eben das Trompetensignal. Für Bloch kündigt es nicht nur die Rettung an, »eine Ankunft des Messias«, sondern es kündet bei seinem zweiten Erklingen »aus einer bereits veränderten Welt. Und nun zurück in den Freiheitsakt, in die Marseillaise über der gefallenen Bastille. Der große Augenblick ist da, der Stern der erfüllten Hoffnung im Jetzt und Hier.« Und wenn Leonore Florestan die Ketten abnimmt (»O Gott, welch ein Augenblick«), ist darin für Bloch wie für uns alle »jeder künftige Bastillensturm intendiert«, und »so steht Musik insgesamt an den Grenzen der Menschheit«, in einer »erlangten Wir-Welt«, die sich erst noch bildet – aber »aus künftiger Freiheit«, ein Stern, »aber als neue Erde«. Es besteht Hoffnung, denn die Freiheit, das Glück scheint erreichbar.

Bloch hat übrigens das »Trompetensignal« in der Interpretation von Otto Klemperer geliebt. Nun gilt der »Fidelio« trotz etlicher hervorragender Teile zurecht als nicht wirklich gelungene Oper – der bessere »Fidelio« ist wohl die »Leonore«, die René Jacobs dieses Jahr mit dem Freiburger Barockorchester mustergültig aufgenommen hat. Aber wir sehen am Beispiel Ernst Blochs, wie sehr Beethovens Musik über die Generationen immer wieder begeistert, berührt und, ja, auch aufgewiegelt hat.

Es gibt etliche atemberaubende Stellen bei Beethoven, immer wieder wird auf völlig neue Art und Weise das Firmament errichtet, »der gestirnte Himmel über uns«, von dem Beethoven 1820, Kant zitierend, in sein Konversationsheft schrieb. Es sind Stellen wie die Wendung in der Durchführung des ersten Satzes der Hammerklaviersonate, wenn das Hauptthema mit dem tiefen fis explodiert, oder der berühmte Horneinsatz auf der Tonika mit dem Hauptthema des ersten Satzes der »Eroica«, begleitet vom Tremolo der Streicher in der Tonart der Dominante. Oder die »Cavatina« des B-Dur-Streichquartetts op. 130, deren Aufnahme auf der mit Gold überzogenen Datenplatte aus Kupfer mit Bild- und Ton-Informationen über die Menschheit enthalten ist, der sogenannten »Voyager Golden Record«, die sich an Bord der Raumsonde Voyager 1 befindet, die 1977 von Cape Canaveral startete, 1979 den Jupiter und 1980 den Saturn passierte und im August 2012 als erstes von Menschen erzeugtes Objekt in den interstellaren Raum eintrat und derzeit weit mehr als zwanzig Milliarden Kilometer von der Erde entfernt ist (und immer noch regelmäßig Daten zur Erde sendet!). Und wenn die Voyager 1 also jemals irgendwo im Weltraum auf intelligentes Leben treffen wird, dann kann es sein, dass dieses intelligente Leben Beethovens »Cavatina« aus seinem späten B-Dur-Quartett studieren wird – und damit einen durchaus geschönten Eindruck von der Menschheit bekommen dürfte…
»[Allein] Freiheit, weitergehn ist in der Kunstwelt wie in der ganzen großen Schöpfung Zweck«, schrieb Beethoven 1819. »Weitergehn«, und zwar in der und in die Freiheit, das ist Beethovens Utopie. Und das macht wohl bis heute die Faszination Beethovens aus – warum wir immer wieder neu von diesem Komponisten fasziniert und, wenn wir es zulassen, auch erschüttert werden.

Berthold Seliger ist Konzertagent und Publizist. In seinem Buch »Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle« (Matthes & Seitz, 2017) hat er sich insbesondere im Schusskapitel »Revolte. Das Prinzip Beethoven« mit Werk und Wirkung dieses einzigartigen Komponisten auseinandergesetzt. Er hat bei Spotify eine Playlist zusammengestellt:

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