Therapien ohne Lobby

Heilmittelerbringer streiten für mehr Verantwortung und die Akademisierung ihrer Berufe

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.

Für die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) gilt die Heilmittelversorgung neben den Ausgabengiganten Krankenhäuser, Arzneimittel und ärztliche Versorgung als relativ kleiner Leistungsbereich. 2018 berappte die GKV dafür 7,58 Milliarden Euro - für Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie sowie medizinische Fußpflege. Auch Ernährungstherapie gehört dazu, zum Beispiel bei Stoffwechselstörungen oder Erkrankungen wie Diabetes. Richtig und rechtzeitig angewandt können all diese Therapien Beschwerden lindern, beseitigen oder auch operative Eingriffe verhindern, zudem wieder zum Alltagsleben befähigen. Dieses Potenzial scheint aber bislang kaum gewürdigt. Grund genug für den GKV-Spitzenverband, die gesetzlichen Neuerungen in diesem Bereich in der vergangenen Woche in Berlin mit Vertretern aus Politik und von Fachverbänden zu diskutieren.

Gemessen an ihren Aufgaben, ist es bislang um die beteiligten Therapeuten relativ ruhig, ihre Lobby erreichte bis jetzt nicht die Durchschlagskraft der Gewerkschaften im Gesundheitsbereich. Jedoch wies die bundesweite Aktion »Therapeuten am Limit« in den letzten beiden Jahren darauf hin, dass auch in diesen Berufen ein Fachkräfteproblem besteht, ganz zu schweigen von Schulgeldpflicht und hohen Ausgaben für Kurse und Zusatzqualifikationen etwa im Bereich der Physiotherapie.

Das Gesundheitswesen sei auf Akuterkrankungen konzentriert, erklärte Irina Cichon von der Robert-Bosch-Stiftung, die zum Stand der Heilmittelversorgung forscht. Patienten müssten zum Teil lange auf den Beginn einer nichtärztlichen Therapie warten. Eine Verordnung für kassenfinanzierte Leistungen muss zudem immer von einem Arzt eingeholt werden. Um dies zu vereinfachen, gibt es laut Terminservice- und Versorgungsgesetz jetzt die Aussicht auf sogenannte Blankoverordnungen. Entsprechende Verträge sind vom GKV-Spitzenverband mit den zuständigen Berufsverbänden bis zum 15. November abzuschließen. Diese Verordnungen sollen den Therapeuten ermöglichen, unabhängiger als bisher über die Behandlung der Patienten zu entscheiden.

Über dieses »bisher« entzündet sich die Debatte. Denn Modellversuche zur Blankoverordnung gibt es bereits seit 2008 - und, so Cichon, sie hätten sich bewährt. Es gebe in deren Folge keinen Kostenanstieg, die Qualität der Leistungen sei gleich, die Dauer der Therapien eher kürzer. Die Ergebnisse bei den Patienten seien besser und deren Zufriedenheit höher. Es hätte schon längst etwas passieren müssen, zumal in der Praxis die Blankoverordnung schon existiere: Andreas Pfeiffer vom Verband der Ergotherapeuten wies bei Tagung in Berlin darauf hin, dass Ärzte oft nachfragten, was aus Sicht der Therapeuten zu tun sei. Dann werde das Rezept entsprechend ausgestellt.

Diese Praxis kennt auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Roy Kühne, der ausgebildeter Physiotherapeut ist. »Auf der Verordnung steht zum Beispiel Wirbelsäulensyndrom als Diagnose, als Therapie sechsmal Krankengymnastik.« Beides sei äußerst »undifferenziert«. Kühne erregt sich auch darüber, dass bei vielen privat zu finanzierenden Zusatzausbildungen (etwa bei der Manuellen Therapie) als erstes die Diagnose gelehrt wird. Die Therapeutinnen und Therapeuten wären durchaus befähigt, die Ärzte auch formell viel stärker zu entlasten als bisher üblich. Zumal viele der speziellen Therapien von der Krankenkasse erstattet werden.

Das Terminservice- und Versorgungsgesetz brachte den Therapeuten für ihre Leistungen schon zum 1. Juli 2019 eine Preisangleichung nach oben. Die Durchschnittsgehälter von angestellten Physiotherapeuten in Praxen seien von vorher 2100 Euro brutto auf jetzt etwa 2600 Euro angestiegen, so der LINKEN-Bundestagsabgeordnete Achim Kessler. Damit hätten sie aber immer noch nicht das Niveau der Bezahlung von Physiotherapeuten in Krankenhäusern, die 3000 Euro erreichen.

Viele Missstände sind eben dadurch noch nicht behoben, Wartelisten in den Praxen gibt es immer noch, Hausbesuche sind in manchen Regionen nicht mehr möglich. Die Schulgeldfrage ist von den Bundesländern zu regeln. Wo das nicht geschieht, sind immer noch bis zu 20 000 Euro für die Berufsausbildung aufzubringen, erklärte Kessler. Ein weiterer Knackpunkt zur Aufwertung der Therapien ist die Akademisierung der Ausbildung. Diskussionsteilnehmer aus der therapeutischen Praxis drängen darauf, zumal das in vielen Ländern Europas schon lange üblich sei. Vor allem die Ärzte hierzulande sind aber noch nicht bereit, in der Folge Verantwortung abzugeben. Es sei kein Argument, dass die studierten Kräfte dann nicht in die Versorgung gingen, so Physiotherapeut Pfeiffer. Die jetzt noch einmal verlängerten Modellklauseln bewiesen es, denn 90 Prozent der Absolventen entsprechender Studiengänge arbeiteten durchaus mit Patienten. Auch die frei bleibenden Ausbildungsplätze an den herkömmlichen Therapieschulen verstärkten den dringenden Regelungsbedarf.

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