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»Entsichern« statt Überwachung und Repression
Aktivisten traten dem Europäischen Polizeikongress mit eigenem Programm gegenüber
Für einen kurzen Moment ist es tatsächlich da: ein Fenster der »Unkontrollierbarkeit«, wie sie die hier Versammelten sonst vermissen. Knapp 2000 Demonstranten sind es da gerade, die am Freitagabend durch die Grünberger Straße in Berlin-Friedrichshain ziehen. Wut, Trauer und Zorn liegen in der Luft. Die Strecke geht vorbei an der Wohnung der 33-Jährigen, die Ende Januar von einem Polizisten erschossen wurde.
»Mörder! Mörder!«, schallt es aus Hunderten Kehlen, mehrfach bekunden Nachbarn ihre Sympathie. Ungewöhnlich viele Demonstrationsteilnehmer haben sich vermummt. Pyrotechnik erhellt den Nachthimmel, Böller knallen. Die Polizei ist nur an den Enden der Straße zu sehen. Angesichts des nächsten Wegpunkts, der Polizeiwache des Beamten, der die tödlichen Schüsse abgab, ist die Spannung greifbar. Zumal jene Wache für Einsätze gegen linke Objekte berüchtigt ist.
Schon an der nächsten Kreuzung rückt die Staatsmacht die Kräfteverhältnisse wieder gerade. 800 Polizisten samt Hundestaffel sind im Einsatz. Die Polizeidienststelle und sämtliche umliegenden Straßen sind abgeriegelt. Beamte begleiten den Zug so eng, dass sie Demonstrierenden auf die Füße treten. Im vorderen Bereich ziehen sie unablässig an den Transparenten, schubsen auch Journalisten, unter anderem den Verfasser dieses Textes. Kurz nachdem der Autor »Presse« ruft, rempelt ihn ein weiterer Beamter an. Jede Äußerung geschieht im Lichte mehrerer polizeilicher Kameras. Der Frontblock zeigt sich dennoch lange kämpferisch. Am Ende stehen 21 Festnahmen. Organisatoren erklären im Gespräch mit »nd« trotzdem zufrieden: »Trotz des massiven Bullenaufgebots war die Demo kraftvoll und entschlossen und hat sich auch durch polizeiliche Schikanen nicht aufhalten lassen.«
Mit diesem Auftakt brachten beide Seiten ihre gegenseitige Ablehnung zum Ausdruck. »In Feindschaft zum Europäischen Polizeikongress (EPK)«, der am 4. und 5. Februar in Mitte stattfinden wird, folgte von linksradikaler Seite das Hauptprogramm erst am Wochenende.
Unter dem Motto »Entsichern« organisierten Aktivisten in Kreuzberg einen Gegenkongress mit rund 20 Veranstaltungen. »Ziel des EPK ist die Vernetzung politischer und polizeilicher Entscheidungsträger*innen mit direktem Zugriff auf die Innovationen der Kriegs- und Überwachungsarchitektur«, hieß es im Ankündigungstext. Dort treffe sich »das Who is Who der reaktionärsten Bereiche der Gesellschaft«.
So etwa der Verfassungsschutz, Waffenlobbyisten, Grenzsicherungsfirmen, Konzerne und Polizei. Nun wolle man selbst zusammenkommen, um Gegenentwürfe zu entwickeln, Methoden gegen Überwachung zu diskutieren und sich die Angst vor Repression zu nehmen, schrieben die Veranstalter. In Anlehnung an die Schwerpunkte des Polizeikongresses standen dabei die Themen Digitalisierung und institutioneller Rassismus im Fokus. Im Eröffnungsvortrag schilderte der Aktivist Michael Hartmann, wie innerhalb der Behörden »Militarisierungstendenzen durch selektive Betonung polizeilicher Weltdeutung verstärkt« würden. Alltag und Statistik rückten zusehends als Grundlage für Überlegungen in den Hintergrund. Stattdessen verlange die Kombination einer »Erzähllogik der Katastrophe« mit »herausgegriffenen polizeilichen Heldengeschichten« einen schier endlosen Innovations- und Aufrüstungsdruck. So werbe etwa ein Hersteller von Rüstungsgütern gegenüber der Polizei mit einem Helm, der 30 Treffern aus einem Sturmgewehr standhalte.
Im Anschluss folgte eine Podiumsdiskussion, in der unter anderem die Machtverschiebung hin zu privatwirtschaftlichen Softwareentwicklern und Server-Betreibern erörtert wurde. Auch massenhafte präventive Datenerfassung durch Behörden und technologische Entwicklungen wie Gesichtserkennung in Echtzeit waren Thema. Fragen aus dem Publikum waren besonders technischer Natur, etwa ob externer Zugriff auf Smartphone-Mikrofone möglich sei.
Die Organisatoren des »Entsichern«-Kongresses fassten ihre Veranstaltung gegenüber »nd« so zusammen: »Bereits im Lauf des ersten Tages haben mehr als 300 Leute die Workshops und Vorträge besucht. Das Interesse der Genoss*innen zeigt uns einmal mehr, dass es in den letzten Jahren an derartigen Diskussionen und Vernetzungen in der Bewegung gefehlt hat.«
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