Im Sinkflug

In Europa steigt allerorts der Mindestlohn. In Deutschland hingegen nimmt er relativ gesehen sogar ab.

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 5 Min.

Frankreich hat ihn. Einen Mindestlohn, der zum Leben reicht. Zwar haben auch die meisten anderen Länder in der Europäischen Union einen Mindestlohn, aber der liegt oft weit unter dem, was die EU-Kommission als »gerecht« und »angemessen« bezeichnet. Damit ist sie sich mit Arbeitsmarktexperten einig, die fordern, dass der Mindestlohn mindestens 60 Prozent des Medianlohns betragen muss, um davon leben zu können. Der Medianlohn ist das mittlere Einkommen - es verdienen genau gleich viele Personen mehr als diesen Betrag bzw. weniger.

In Deutschland ist der Mindestlohn erst 2015 eingeführt worden und damit wesentlich später als in vielen seiner Nachbarländer. Damals war er schon niedrig: 8,50 Euro, 48,3 Prozent des Medianlohns. In den Folgejahren wurde er schrittweise auf 9,35 angehoben. Gemessen am Lohnniveau ist er aber kontinuierlich gesunken - auf 45,6 Prozent des Medians. Das zeigt der neue Mindestlohnbericht des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI).

Deutschland liegt damit im EU-Vergleich auf Platz 16 der 19 Länder, für die Daten zur Verfügung stehen. Nur Estland, Tschechien und Spanien schneiden noch schlechter ab. Die EU-Kommission sieht den Mindestlohn in Deutschland sogar auf armutsgefährdendem Niveau - so wie auch in Luxemburg, Tschechien, Estland, Malta und Lettland.

Das WSI veröffentlicht seinen Mindestlohnbericht seit 2009. Ausgewertet wurden für die aktuelle Publikation die Daten aller 22 EU-Länder, in denen Anfang 2020 gesetzliche Mindestlöhne in Kraft waren, außerdem von sieben Anrainerstaaten und sieben außereuropäischen Industrie- und Schwellenländern. EU-weit sind die Mindestlöhne sehr unterschiedlich. Während in Bulgarien 1,87 Euro gezahlt werden, sind es in Luxemburg ganze 12,38 Euro. Deutschland liegt in seiner Vergleichsgruppe (über 9 Euro) auf dem letzten Platz.

Doch ohne auf die Lebenshaltungskosten in den einzelnen Ländern zu blicken, sagen diese Zahlen wenig aus. Berücksichtigt man diese, ist die Spannbreite nicht mehr ganz so groß, liegt aber immer noch zwischen 3,18 Euro in Lettland und 9,03 Euro in Luxemburg.

In den vergangenen 20 Jahren sind die Mindestlöhne in der EU kontinuierlich gestiegen. Zuletzt hat sich der Trend noch einmal verstärkt. Besonders große Schritte ging Spanien, das seinen Mindestlohn von 2018 auf 2019 um 22 Prozent erhöhte. Zum 1. Januar 2020 stieg er noch einmal um 5,6 Prozent und liegt nun bei 41,2 Prozent des Medianlohns. Die Regierungskoalition aus Sozialisten und dem Linksbündnis Unidas Podemos will ihn bis 2024 auf 60 Prozent des mittleren Lohns anheben. Auch Polen ist kürzlich große Schritte gegangen und hob seinen Mindestlohn Anfang dieses Jahres um 15,6 Prozent an - mehr als die von den Gewerkschaften geforderten 12 Prozent. Bis 2024 soll er von aktuell 2600 auf dann 4000 Złoty steigen. Großbritannien einen Anstieg im April um 6,2 Prozent, was 60 Prozent des Medianlohns entspräche. Bis 2024 soll der Mindestlohn dort sogar zwei Drittel erreichen.

Nur zwei EU-Staaten haben der WSI-Studie zufolge bereits einen Mindestlohn, der bei über 60 Prozent des Medians liegt: Frankreich und Portugal. In elf Ländern wird hingegen sogar die Marke von 50 Prozent verfehlt, womit der Mindestlohn hier dem WSI zufolge als »Armutslohn« gelten muss. Darunter sind die Niederlande, Belgien und Deutschland. In Deutschland fordern die Gewerkschaften eine Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro - das entspräche in etwa 60 Prozent des mittleren Einkommens. Doch nach den bisher geltenden Mechanismen zur Anpassung des Mindestlohns wären diese 12 Euro erst im Jahr 2033 erreicht.

Spanien und Großbritannien sind die einzigen bekannten EU-Staaten, die ihren Mindestlohn perspektivisch auf 60 Prozent des Medians anheben wollen. Die Slowakei plant, bis 2021 60 Prozent des Durchschnittslohns zu erreichen. Nicht immer sind 60 Prozent existenzsichernd. Portugal zum Beispiel hat die Schwelle bereits überschritten. Doch dort sind die Preise vergleichsweise hoch, und selbst das mittlere Einkommen fällt sehr niedrig aus, so das WSI. Der dortige Mindestlohn schützt also vor Armut nicht. Das gilt auch für viele osteuropäische Länder. Das WSI versteht die 60 Prozent als pragmatische Größe, die in vielen Ländern eine starke Erhöhung mit sich bringen würde. Perfekt sei sie aber nicht. Man müsse ihre Wirkung im nationalen Kontext einem Reality Check unterziehen und den Mindestlohn gegebenenfalls weiter erhöhen

Möglicherweise könnte schon in diesem Jahr eine Gesetzgebung kommen, die die 60 Prozent europaweit festlegen. Mitte Januar hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Start einer europäischen Mindestlohninitiative verkündet. Damit ist kein europaweit einheitlicher Mindestlohn gemeint: Dafür sind die Lohnunterschiede in den einzelnen Ländern zu hoch. Stattdessen sollen Kriterien entwickelt werden, an denen die EU-Staaten ihren Mindestlohn ausrichten sollen. Sechs Wochen hat die Kommission Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften gegeben, um sich zu positionieren. Die Frist läuft bis Ende Februar.

Ziel der EU-Kommission ist ein fairer Mindestlohn. In einem Papier, das die Kommission mit Start des Konsultationsprozesses veröffentlichte, nennt sie die 60-Prozent-Regel als mögliches Mittel, um den Mindestlohn armutsfest zu machen. Der europäische Gewerkschaftsdachverband ETUC begrüßt die Initiative der Kommission daher auch, kritisiert aber, dass das Papier wenige konkrete Vorschläge für die Umsetzung macht. Und auch ein Mindestlohn auf 60 Prozent des jeweiligen Medianlohns sei nicht genug, sagt die Vize-Generalsekretärin von ETUC, Esther Lynch. »Für Arbeiter wird es immer noch schwierig sein, über die Runden zu kommen.« Alle Angestellten sollten daher das Recht erhalten, in eine Gewerkschaft einzutreten und Tarifverträge auszuhandeln. »Die EU-Kommission sollte mit gutem Beispiel vorangehen und dafür sorgen, dass öffentliche Aufträge nur noch an solche Firmen vergeben werden, die mit Gewerkschaften Löhne aushandeln und mit Gewerkschaften ausgehandelte Löhne anerkennen«, fügt sie hinzu.

Der Unternehmer-Dachverband Business Europe ist strikt gegen eine EU-Initiative für Mindestlöhne in Europa. Die Mehrheit der EU-Staaten habe bereits Mindestlöhne, hieß es in einer Mitteilung. »Löhne werden am besten auf nationaler Ebene von den jeweiligen Sozialpartnern festgelegt.« Von Arbeitgeberseite wird es daher aller Wahrscheinlichkeit keine Vorschläge zu Mindestlohnkriterien auf europäischer Ebene geben.

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