Wir sitzen auf Papier

Zum Tod des Schriftstellers Ror Wolf

  • Jürgen Roth
  • Lesedauer: 5 Min.

Ich sitze arbeitsbedingt gerade in der deutschen Provinz, und außer dem Band mit Ror Wolfs gesammelter Fußballprosa, »Das nächste Spiel ist immer das schwerste«, habe ich deshalb im Moment keines seiner Bücher zur Hand, die zu Hause in Frankfurt am Main mehrere Regalbretter schmücken und die der Schöffling-Verlag seit vielen Jahren, ungeachtet der verkommenen, nur mehr auf Profit getrimmten Gepflogenheiten im Literaturbetrieb, mit allergrößter Sorgfalt betreut. Auch keine der CDs, auf denen ich auf Wunsch von Ror Wolf und im Auftrag des Bayerischen Rundfunks 2006 sämtliche seiner epochalen, genrebegründenden - und das schönste aller Medien, das Radio, das Ror Wolf, biografisch bedingt, tatsächlich liebte, wie er in Gesprächen wiederholt betonte, zart nobilitierenden - Fußballcollagen versammeln durfte, inklusive eines letzten, bilanzierenden Hörbildes, das wir gemeinsam aus schier unüberschaubaren Mengen an O-Tonmaterialien aus Rors Archiv komponierten.

Gott sei Dank, so furchtbar unangemessen, nein: zutiefst taktlos das auch tönt, habe ich ebenso wenig Zugriff auf die Radio-Ballade »Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nordamerika«, das zweifellos gelungenste, anrührendste Hörspiel, das im deutschsprachigen Raum jemals geschrieben und produziert wurde, mit Christian Brückner, der die Hauptrolle spricht, der jene traurige und zugleich beseligende Figur des fragilen und genialen Jazzmusikers stimmlich derart nuancengenau und mimetisch modelliert hatte, dass Ror von einer Glückserfahrung sprach, wenn er, der im Kulturbetrieb hin und her geschubst worden war (und selber eine gewisse zornige Freude an Rempeleien und sportlichen, zuweilen allerdings erbitterten Konflikten mit Verlegern und Rundfunkredakteuren hegte), auf dieses Wunderwerk zu sprechen kam.

Gott sei Dank - das sage ich einerseits, und ich darf das vielleicht sagen, weil wir befreundet waren und nicht selten über intime Dinge redeten und es mir deshalb sehr schwerfällt, diese unbeholfenen Zeilen hier zu schreiben; schwerfällt zudem, weil man Ror Wolfs Tod nicht akzeptieren will, obwohl ein kleiner Kreis von Freunden wusste, wie es ihm ging.

Gott sei Dank andererseits, weil ich überhaupt nichts zustande brächte, läse und hörte ich mich heute in Ror Wolfs Œuvre fest (und man kann sich darin nur federnd und schwebend verlieren, weil es in seiner inständigen Hinwendung zu den konfusen und gefährlichen und reizenden Wirklichkeiten und den herumfliegenden sprachlichen Trivialitätspartikeln jede deutsche Tiefensucht und jedes hypokritische Transzendenzgebimmel verlacht); in einem Œuvre, das wie kein anderes in den vergangenen hundert Jahren - die frühen Anregungen etwa durch Samuel Beckett, Robert Walser, Franz Kafka, Peter Weiss oder Jules Verne seien der Form halber erwähnt - Düsternis und Komik, Schmerz und lichtes Vergnügen, Horror und Slapstick, Melancholie und Clownerie, Erotik und Abscheu, Lust und Angst miteinander verschmolz, vermählte im Spiel mit all den Möglichkeiten, die die Literatur dem Muff der verordneten, konventionalisierten Realitäten und den betonierten Begriffs- und Vorstellungskonstruktionen der Herrschenden entgegenzustellen vermag.

Ein Lebenswerk wie dasjenige von Ror Wolf kann ich nicht annäherungsweise würdigen. Es steht ganz und gar alleine da, auf einer kahlen, vom Wind bestrichenen, weiten Ebene namens Welt, jedwede Normen und impliziten Vorschriften der Wortverwalter in den Feuilletons und den meisten Jurys zurückweisend. Ror Wolf hat bedeutende Preise verliehen bekommen, das ist wahr, aber den Büchner-Preis hat man demjenigen, der sie alle aus seinem Zufluchtsort Mainz, aus dem »verkotzten Mainz« (so Ror mal in einer Mail an Kay Sokolowsky) heraus still - und unermüdlich an einem solitären, unabschließbaren Gesamttext weiterarbeitend - überragte, nicht und wieder nicht verleihen wollen. Ist, bitte schön, ein genaueres Urteil über dieses Land denkbar? Nein. Danke schön. Nichts zu danken.

Der Deutschlandfunk nannte Ror Wolf gestern, als bekannt wurde. dass er am Montag im Alter von 87 Jahren gestorben war, zu Recht und ähnlich hilflos wie ich, einen »genialen Außenseiter«. Vor gut zwei Wochen feierten wir in Hamburg Hermann Peter Piwitts 85. Geburtstag. Piwitt lapidar: »Ror Wolf ist der Größte von uns allen.« Und Jochen Schimmang merkte mir gegenüber kürzlich an, »Pilzer und Pelzer« sei das beeindruckendste Buch, das er jemals gelesen habe.

Ich weiß, ich verschanze mich hinter meinen Empfindungen und hinter den Mitteilungen anderer. Ich lasse das nun bleiben. Ich würde gern ein Hans-Waldmann-Gedicht zitieren oder aus Ror Wolfs Romandebüt »Fortsetzung des Berichts« oder aus den unzähligen funkelnden, fließend rhythmisierten und trompetentonrein klingenden Kurzprosakostbarkeiten. Ein Buch sollte so beschaffen sein, dass man es irgendwo aufschlagen und zu lesen beginnen könne, meinte Ror Wolf, und so schlage ich »Das nächste Spiel ist immer das schwerste« auf und lese das erste der unsterblichen Rammer-&-Brecher-Sonette:

»Das ist der Anfang. Das ist der Beginn. / Die Wolken fliegen dort in der Natur. / Jetzt geht es los. Wir sehen auf die Uhr. / Jetzt setzen wir uns erst mal richtig hin. // Wir sitzen auf Papier. In diesem Sinn. / Wir warten ab. Von Rammer keine Spur. / Der Brecher ganz allein auf weiter Flur. / Da sitzen wir. Es ist noch alles drin. // Es ist zwar schlimm, doch war es auch schon schlimmer. / Wir sehen schwarz im Schein des Abendlichts. / Die Nummer Neun hat keinen blassen Schimmer. // So sieht es aus am Anfang des Berichts. / Wir freun uns nicht so sehr, doch wie auch immer: / Das ist ja erst der Anfang und sonst nichts.«

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