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- 50 Jahre Neoliberalismus
Stark gegen die Schwachen
50 Jahre Neoliberalismus - eine Zwischenbilanz mit Grégoire Chamayou.
Am liebsten gibt sich der Neoliberalismus unpolitisch. Seine Apologeten lieben Grafiken und Tabellen, aus denen hervorgehe, dass es nun einmal »keine Alternative« zur Logik »der Wirtschaft« gebe. Vielleicht gestehen sie zu, dass es zu »gewissen Härten« kommen könne. Womöglich, sagen sie dann, sei die »wirtschaftliche Vernunft« manchmal etwas kalt. Doch was kann man tun, wenn »die Zahlen« sind, wie sie sind?
Wenn so »objektiv« und »politikfern« über das Politische schlechthin - die gesellschaftliche Aneignung und Verteilung von Ressourcen - gesprochen werden kann, zeugt das von stabiler Hegemonie. Davon, dass es diesen Sprechern gelungen ist, sich in einen Bereich des Quasi-Naturgesetzlichen zu verabschieden, der nur von »unrealistischen Spinnern« hinterfragt werden kann. In dieser Sphäre klingt dann die Behauptung, eine Gesellschaft, die etwa »Künstliche Intelligenz« hervorbringt, könne unmöglich dafür sorgen, dass Alte keine Pfandflaschen sammeln müssen, nicht im Geringsten absurd.
Zugleich verweist jene Standardsituation des öffentlichen Redens über »Wirtschaft« und »Politik« aber auch auf Risse in der Hegemonie: Noch scheint zwar die Fiktion zu halten, dass »die Wirtschaft« dem Politischen entrückt sei. Doch im Unterschied zu etwa den früheren 2000er Jahren ist der Glaube daran erodiert, dass dies letzten Endes zu aller Segen so sei: Das Leben nach »den Zahlen« gilt mehr und mehr als Zumutung. Jüngst scheinen - etwa in der Wohnungsfrage - auch wieder substanzielle Eingriffe in »die Wirtschaft« denkbar und populär: Jene Doktrin des »Impossibilismus« scheint an Legitimität zu verlieren.
Das industrielle Woodstock
Das schärfste Schwert gegen einen der Diskussion dergestalt entrückten Zustand ist immer die Historisierung. Zeigt diese Operation doch zumindest eines: Es war nicht immer so - und muss daher auch nicht so bleiben. Und indem man rekonstruiert, wie diese Enthebung eigentlich vonstattenging, entzaubert man das Enthobene: Hinter »Prinzipien« und »Wahrheiten« lugen plötzlich die schmutzigen Details hervor, die tatsächlichen Fragen und Probleme, von deren »Lösung« jener Zustand einmal ausging.
Besonders in Letzterem besteht die Stärke von Grégoire Chamayous nun auch auf Deutsch vorliegendem Buch »Die unregierbare Gesellschaft«. Diese »Genealogie des autoritären Liberalismus« rückt nämlich das höchst politische Handgemenge in den Vordergrund, in dem im Verlauf der 1970er Jahre das geboren wurde, was sich heute als die reine wirtschaftliche Vernunft ausgibt. Schon im Buchtitel unterstreicht der 1976 geborene Philosoph und Soziologe, dass das heutige neoliberale Regime keineswegs von unbestechlichen »Daten« und »rein ökonomischen« Problemen ausging - etwa der berühmt-berüchtigten »Stagflation« -, sondern von unmittelbar politischen Ängsten der Herrschenden. Händeringend suchten diese nach Auswegen aus jener »Krise der Regierbarkeit«, die eher linke Denker wie Michel Foucault zeitgleich als Transformationsperspektive feierten.
Chamayous Stärke ist es, dass er sich nicht nur an »Klassikern« abarbeitet. Er legt - schwerpunktmäßig mit Blick auf die westliche Vormacht USA - das Klein-Klein der Umstände frei, von denen diese Klassiker einst abstrahierten oder unter denen sie für die Praxis »entdeckt« wurden. Er liest nicht nur die hehren Theorien von Wirtschaftsnobelpreisträgern, sondern etwa auch die hemdsärmeligen Schriften früher Experten für Anti-Gewerkschaftskampf oder schockierter Abteilungsleiter. So tritt sein Buch mitten in das Gewimmel, das den Herrschenden damals solche Angst machte. Die »rebellischen 1970er« mögen heute zu harmloser studentischer Hippieromantik zusammengeschnurrt sein, die Mittelschichtkinder anhand seltsamer Schlaghosen im (groß-)elterlichen Fotofundus belächeln. Was aber damals tatsächlich los ist - auch in den Fabriken - trägt Chamayou in eindrucksvollen Beispielen zusammen.
1975 veröffentlicht die »Trilaterale Kommission« - ein 1973 auf Initiative von David Rockefeller gegründeter konservativer Think Tank, an dem auch Samuel P. Huntington mitarbeitet - die Denkschrift »Die Krise der Demokratie«, einen »Bericht über die Regierbarkeit der Demokratien«. Dieser liefert ein Panorama der Angst von oben: Nicht nur an den »Rändern« der Gesellschaft, wo sich Schwarze, Frauen und andere vermeintliche Minderheiten organisierten, gibt es Unruhe. Auch »in der Familie, an der Universität, in den Unternehmen« lockere sich »die Disziplin und Statusunterschiede verwischten sich«, warnt das Papier. Jede erdenkliche Gruppe fordere nun »ihr Recht ein, gleichberechtigt - und manchmal mehr als gleichberechtigt - an den sie betreffenden Entscheidungen teilzunehmen«.
Welche Formen das auch in Fabriken hatte, zeigt ein 1970 verfasster interner Bericht von General Motors: »Die Arbeitsdisziplin ist zusammengebrochen«, wird ein Zustand resümiert, als dessen Fanal damals der Standort in Lordstown (Ohio) gilt, der übrigens im März 2019 nach 55 Jahren geschlossen wurde. Die wilden Streiks im »industriellen Woodstock«, wie die Presse damals schrieb, gingen einher mit Sabotage - teils wie zum Spaß verübt: »Einmal habe ich einen Hinterwäldler gesehen«, wird ein Beschäftigter zitiert, »der einen Zündschüssel in den Tank fallen lässt. Letzte Woche habe ich gesehen, wie so ein Typ einen brennenden Handschuh in den Kofferraum eines Wagens wirft. Wir wollten alle sehen, wie weit er das Band runterkommt, bevor sie es merken.«
Was sich laut dem lokalen Management von Lordstown in 12 000 nicht gebauten Autos niederschlägt, verallgemeinert jene »Trilaterale Kommission« zu der Warnung davor, »das politische System mit Forderungen zu überfrachten, die seine Funktionen erweitern und seine Autorität untergraben«. Diese Krise der Regierbarkeit scheint nun überall zu eskalieren. Und wie Chamayou schreibt, erfolgt der Gegenangriff zunächst ganz ungeordnet: »Jeder bemühte sich, die Breschen auf seinem eigenen Terrain zu stopfen, ohne zentrale Koordination oder einheitliche Lehre.«
Praktisch und tastend erprobt werden dabei auf betrieblicher wie gesellschaftlicher Ebene »harte« sowie »weiche« Strategien. In Lordstown etwa installierte man ein zentralisiertes, autoritäres Produktionsregime. Anderswo, etwa bei dem Hundefutterhersteller General Foods in Topeka (Kansas) versuchte man hingegen bereits ab 1971, Selbstverwaltungsbestrebungen in der Belegschaft »produktiv« aufzugreifen und geschäftskompatibel umzuleiten. Gesellschaftlich blies man derweil zum Kampf gegen die Gewerkschaften - und ließ 1970 auf demonstrierende Studenten in der Kent State Universität schießen.
Bis heute trägt der Neoliberalismus ein Doppelgesicht: Seine Hegemonie, also seine Fähigkeit, nicht nur über »sinnvolle« Antworten, sondern bereits über die Zulässigkeit von Fragen zu entscheiden, ist »gepanzert mit Zwang«. Was Antonio Gramsci dem Wesen kapitalistischer Herrschaft allgemein nachsagte, spezifiziert der Politologe James Rowe für die Welt seit etwa 1980: »Die disziplinarische Kehrseite« aller »freiwilligen Mechanismen« seien »Schlagstöcke, Gummigeschosse und Tränengas«. Seit den 1980ern und 1990ern sind martialische »Riot Cops« so normal geworden, dass die rasante Aufrüstung des Zwangsapparates oft gar nicht mehr wahrgenommen wird.
Jener »gepanzerte« Neoliberalismus tobt sich in den 1970er und 1980er Jahren vor allem in jenen brutalen lateinamerikanischen Diktaturen aus, mit denen seine »Vordenker« teils offen sympathisieren oder gar kooperieren. Im Westen hingegen sind - mit Ausnahme vielleicht von Maggie Thatchers Bürgerkrieg gegen die Gewerkschaften - jene »freiwilligen Mechanismen« prägender. Interessant ist diesbezüglich, wie Chamayou anhand damals einschlägiger Literatur etwa die Privatisierung öffentlicher Dienste nicht nur als Geschäftsfeld, sondern auch als Herrschaftstechnik in den Blick bekommt.
Aus Bürgern mach Kunden
Als »Mikropolitik« bezeichnete der britische Neoliberale Madsen Pirie damals seine Strategie der kleinen Schritte: Zunächst seien im Konsumentenalltag private »Alternativen« am Rande eines Dienstleistungsfeldes zuzulassen, die zunächst und unter Umständen günstiger sind. Ein Beispiel war die 1980 von Margaret Thatcher durchgeführte Liberalisierung des Überlandbusverkehrs, die - ganz ähnlich wie hierzulande Jahrzehnte später -, in England der Bahnprivatisierung voranging. Die Konsumenten würden, so die praktisch oft bestätigte Theorie, zunächst mit dem Geldbeutel abstimmen.
Dabei aber greift längerfristig eine grundlegende Verschiebung: Der Kunde in einem Geschäft verhält sich anders als ein Bürger, der einen Dienst in Anspruch nehmen will. Statt lauthals Rechenschaft und eine politische Auseinandersetzung zu fordern, wenn sich im Bahn-Beispiel nach dem Ende anfänglicher Preiskämpfe diverse Anbieter mit unkoordinierten Fahrplänen auf die profitablen Strecken stürzen, während kleine Orte abgehängt werden, verlässt der zum Kunden mutierte Bürger genervt den Laden.
Diese Verwandlung von Bürgern in Kunden ist die DNA des westlichen Neoliberalismus. Im Zuge einer individuellen »Responsibilisierung« reduziert sich das Politische in der Tendenz auf Kaufentscheidungen. Damit geht die Einstellung einher, dass sich Lösungen für soziale Probleme letztlich »auf dem Markt« fänden. Konsequent wird die »Glaubwürdigkeit« politischer Forderungen am Konsumverhalten der Proponenten gemessen. Die einst antidisziplinäre symbolische Selbsterfindung jugendlicher »Subkulturen« mündet - wie Tom Holert und Mark Terkessides 15 Jahre vor Andreas Reckwitz’ jüngst gefeierter These von der »Singularisierung« des spätmodernen Mittelschichtmenschen schreiben - in einen »Mainstream der Minderheiten«, in dem die individuelle kulturelle Abweichung selbst als Norm gesetzt ist und auch prämiert wird, solange diese »Identitäten« sich »diesseits der Grenze von Eigentum und Wertgesetz« tummeln, wie es der Politologe Sven Opitz einmal ausdrückte.
Während sich auf betrieblicher Ebene durchaus drakonische Regimes verbreiten, erweisen sich für den westlichen Neoliberalismus auf gesellschaftlicher Ebene bislang also eher die »weichen« Methoden jener Hundefutterfabrik in Kansas als charakteristisch: Auf einer schleichenden, selektiven, individualisierenden Überformung einst widerständigen Inventars fußt eine weitgehende Entpolitisierung der Öffentlichkeit, die auch »die Wirtschaft« und ihre »Sachzwänge« der politischen Auseinandersetzung enthebt. Derweil stellt nicht zuletzt jener Markt der »Identitäten« das Material für Kulturkämpfe bereit, die eine Art Surrogat des Politischen bieten.
Diese Politik des Unpolitischen unterscheidet sich zwar in der Form von jenen Militärdiktaturen, nicht aber im Gehalt: Es geht im Neoliberalismus, den Chamayou daher »autoritären Liberalismus« nennt, immer um eine Begrenzung und Beschneidung von Demokratie im Namen der »Freiheit«. Schon 1974 schrieb Huntington, die »Spannungen« einer »postindustriellen Gesellschaft« erforderten wohl »ein autoritäreres und effizienteres Modell staatlicher Entscheidungsfindung«. Dass der Neoliberalismus dem Staat als solchem misstraue, ist ein grobes Missverständnis. Er hat da sehr klare Vorstellungen, die Chamayou auf die Formel »stark gegenüber den Schwachen« und »schwach gegenüber den Starken« bringt.
Der »Tag von Erfurt«, als ein FDP-Mann »gegen Links« mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, illustriert dieses Doppelgesicht. Die FDP ist seit den späteren 1980er Jahren die Kraft des »westlichen« Neoliberalismus der eher »weichen« Maßnahmen. Parteien wie die AfD oder ihre Schwester in Österreich bieten sich für jene »autoritäreren Modelle« an. Zwar ist die AfD - Stichwort Rente - in manchen Fragen noch nicht ganz einig, ob sie die Privatisierung weiter treiben oder den Istzustand nationalistisch verbrämen will. Doch steht sie wie instinktiv bereit, wenn die »Freiheit« gegen die Demokratie zu verteidigen ist - und will sich etwa bundesweit gegen den Berliner »Mietendeckel« profilieren.
Chamayou versteht seine Genealogie der neoliberalen Wende als eine Art Zwischenbilanz: »Das strategische Kalkül erstreckt sich hier über mehrere Generationen. Tatsächlich sind wir nach wie vor involviert.« Noch, so meint er, sei der Prozess nicht beendet; er könne noch immer zum Scheitern gebracht werden. Welche Akteure indes auf dem Spielfeld sind, wenn die Demokratie es unternimmt, sich mit »der Wirtschaft« zu befassen, das hat sich in jüngerer Zeit gezeigt.
Grégoire Chamayou: »Die unregierbare Gesellschaft - eine Genealogie des autoritären Liberalismus«, Suhrkamp, 496 S., geb., 32 €.
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