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Macht die Rassisten zu Fremden!
Elf Empfehlungen für den alltäglichen Kampf gegen rechte Stereotype.
Nach den rassistischen Morden an neun Menschen in Hanau sitze ich wie betäubt vor dem Fernseher und verfolge die Nachrichten. Gezeigt wird unter anderem das Statement von NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). Ein Halbsatz erschreckt mich. Ich glaube es nicht und schaue in der Mediathek nach, doch es stimmt. Reul sagt: »... wichtig ist außerdem, dass wir in diesen Stunden eng an der Seite unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger stehen.« Respekt, er hat gegendert. Doch 2020 steht dieser Innenminister »eng an der Seite seiner ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger«.
Das ist leider keine Satire. Das ist die erschreckende Wahrheit. Anfang der 90er Jahre habe ich, auch in mehreren Artikeln im »ND«, versucht zu erklären, dass wir keine Ausländer, keine Mitbürger, sondern Bürger*innen in diesem Land sind - und zwar egal, wie lange wir schon hier leben. Ich habe keine Lust, 2020 alles zu wiederholen.
Worte, Formulierungen, Kategorien, Bezeichnungen verraten die Denkweise hinter der Sprache. »Es ist ein Angriff auf uns alle«, »Hätte jeden von uns treffen können« sind die Lieblingssätze vieler Politiker*innen. Das klingt sehr emphatisch, ja sogar solidarisch. Aber es stimmt nicht.
Nein, es war kein Angriff auf »uns alle«. Es war ein Angriff auf eine Synagoge, auf eine Moschee, auf Orte, in denen Menschen zu finden sind, die nicht in das Weltbild eines Rassisten, eines Faschisten, eines Antisemiten passen. Menschen wurden angegriffen, geschlagen, ermordet, weil sie eine Kippa oder ein Kopftuch trugen. In der schön klingenden Verallgemeinerung verschwindet die Gefahr; die Opfer werden zu anonymen Gegenständen und die Orte bleiben unbenannt, das Motiv der Täter verschwimmt.
Die Wortschöpfungen Anfang der 90er Jahre lauteten »Scheinasylanten«, »Asylmissbrauch«, »Asylantenflut«. Aktuell heißen die Hetzbegriffe »Migration als Mutter aller Probleme«, »Abschiebeverhinderungsindustrie«, »Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich«, »Obergrenze«, »Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse«.
Anfang der 90er Jahre war das Ziel der Hetze die Änderung des Grundgesetzartikels 16 zum Asylrecht. Es wurde erreicht: Mit den Stimmen von CDU, CSU und SPD im Bundestag war der größte inhumane Angriff auf das Grundgesetz erfolgreich. Nicht zuletzt, weil damals die beiden starken Männer der SPD, Björn Engholm und Oskar Lafontaine, ihre Partei dazu getrieben hatten. Artikel 16 wurde geändert; drei Tage später haben Rassisten in Solingen fünf Menschen verbrannt.
Die rassistische Hetze ging und geht weiter, mal schwächer, mal stärker. Die rassistischen Morde in Hanau bilden einen unfassbaren, aber - wie ich fürchte - nur vorläufigen Höhepunkt. Angesichts dieser Entwicklung dürfen wir nicht den Kopf hängen lassen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir bei uns selbst anfangen. Deshalb habe ich versucht, elf Empfehlungen zu formulieren:
1. Frag nicht sofort, woher der Mensch (»in Wirklichkeit«) kommt, wenn du bei ihm eine Einwanderungsgeschichte vermutest. Viele sind ohnehin in Deutschland geboren. Sie kommen »wirklich« aus Duisburg, Stuttgart, Berlin, Offenbach oder Leipzig.
2. Bitte lobe nicht den türkeistämmigen Obst- und Gemüsehändler bei dir um die Ecke, weil dort alles so schön frisch und billig ist und die Verkäufer*innen immer so nett sind. Ich komme auch nicht auf die Idee, bei jedem weißen Deutschen, den ich kennenlerne, gleich die Supermarktkette und die Kassierer*innen zu loben, weil dort alles so frisch und die Verkäuferin an der Käsetheke so nett ist.
3. Bitte erzähl nicht, wie oft und gerne du beim Türken, Griechen, Asiaten oder Italiener essen gehst, weil es dort so gut schmeckt. Ich erzähle auch nicht ständig herum, wie gerne ich Eisbein mit Sauerkraut und Erbspüree esse.
4. Frag bitte nicht, ob der Kollege, ob die Nachbarn im Urlaub »nach Hause« fahren. In der Regel fahre ich jeden Tag nach Hause. Wohin denn sonst? Und in der Regel fahren Leute im Urlaub woanders hin. Ihr Zuhause ist da, wo sie leben, und nicht dort, wo der Vater oder die Oma geboren wurde.
5. Bitte zähl nicht gleich die netten Kollegen, die lieben Nachbarn auf, die du kennst und die zufällig den gleichen Migrationshintergrund haben. Ich betone auch nicht gegenüber jedem weißen Deutschen, wie nett meine deutschen Kolleg*innen und Nachbarn ohne Einwanderungsgeschichte sind.
6. Bitte erzähl nicht von deinem letzten tollen Urlaub und den netten Menschen dort, wenn du merkst, dass der Mensch bzw. seine Vorfahren irgendwann auch in diesem Land gelebt haben. Viele kennen die Orte nicht, in denen du gewesen bist. In Antalya war ich zuletzt 1977 und Side kenne ich gar nicht.
7. Benutze niemals das N*Wort. Benutze nie diskriminierende Bezeichnungen für Roma und Sinti. Führe keine Diskussionen darüber, dass man es »früher aber so gesagt hat«. Bitte verwende nicht den Begriff »unsere ausländischen Mitbürger«. Wir sind Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, auch wenn nicht alle Staatsbürger*innen sind. Für mich relativiert der Zusatz »mit« die gleichberechtigte Zugehörigkeit. Ich spreche auch nicht von meinen deutschen Mitbürger*innen.
8. Bitte lobe Menschen mit Einwanderungsgeschichte nicht, weil sie so gut Deutsch sprechen. Für viele ist Deutsch ihre Muttersprache. Ich lobe auch keinen Sachsen, keine Schwäbin und keinen Franken, wenn er oder sie Hochdeutsch sprechen kann.
9. Sprich nicht lauter, langsamer oder in gebrochenem Deutsch mit den Menschen mit Einwanderungsgeschichte.
10. Bitte drück dein Erstaunen nicht mit den Worten aus: »Sie sind aber kein typischer Türke, keine typische Italienerin«, wenn der Mensch nicht deinen Vorstellungen von »typisch« entspricht. Ich sage auch nicht jeder weißen deutschstämmigen Person, dass sie nicht »typisch« sei, wenn sie nicht blond und blauäugig ist und in Dirndl oder Lederhose herumläuft.
11. Und zum Abschluss für die Mitglieder der Linkspartei: Bitte sagt nie den Genossinnen und Genossen mit Einwanderungsgeschichte, dass ihr euch freut, weil sie jetzt bei euch mitmachen. Sie machen nicht »bei euch« mit, sondern sind gleichberechtigte Mitglieder unserer Partei.
Die Rassist*innen werden nicht verschwinden. Aber wir können erreichen, dass sie begreifen, dass sie die ungewollten Fremden unserer Gesellschaft sind, die keinen Platz haben dort, wo wir sind.
Tanju Tügel emigrierte 1977 aus der Türkei nach Köln, war dort u.a. aktiv bei der Föderation der Arbeitervereine, dem größten Dachverband linker türkeistämmiger Migrant*innen der ersten Generation in der BRD. 1981 ging er in die DDR und studierte an der Hochschule für Ökonomie. Nach der Wende war er der erste ausländerpolitische Sprecher der PDS und Mitglied des Parteivorstandes.
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