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Jemand muss über den Schatten springen
Netanjahu konnte bei der Parlamentswahl in Israel zwar zulegen, doch für eine Mehrheit braucht er Partner
Das Wahlamt hatte erst wenige Ergebnisse bekannt gegeben, als Benjamin Netanjahu am späten Montagabend einen Dankes-Tweet samt Herzchen-Emoji absetzte, und wenig später vor Unterstützer und Presse trat: »Das ist ein Sieg allen Widrigkeiten zum Trotz«, rief er in die jubelnde Menge; er werde »nun eine starke nationale Regierung bilden« und die Risse kitten, die durch die israelische Gesellschaft verlaufen.
Doch trotzdem ist die Skepsis groß. Unterm Strich ähnelt das Ergebnis den beiden vorangegangenen Wahlen im April und September: Weder das Lager aus rechten und religiösen Parteien, die sich für Netanjahu als Regierungschef aussprechen, noch die Gruppe der arabischen, linken und zentristischen Parteien, die sich bislang strikt gegen Netanjahu aussprachen, kommen zusammen auf die für die Regierungsbildung erforderlichen 61 Sitze. Irgendjemand müsste also nun über seinen Schatten springen, Netanjahu den Weg zurück ins Amt des Regierungschefs ebnen, und das in einer Zeit, in der ein Großteil der israelischen Öffentlichkeit für Netanjahu nur Verachtung übrig hat: Die 36 Mandate, die dem Likud nach Auszählung von 90 Prozent der Stimmen vorhergesagt werden, sehen in den Medien gut und überzeugend aus; doch tatsächlich haben weniger als 30 Prozent für den Likud gestimmt.
Der Wahlkampf, den Partei und Spitzenkandidat führten, war schmutzig, von persönlichen Angriffen auf den ehemaligen Generalstabschef Benny Gantz geprägt, der erneut an der Spitze der zentristischen Blau-Weiß-Liste antrat. Laut aktuellen Hochrechnungen kommt Blau-Weiß auf 32 Sitze. Offen versprach man auch, den Obersten Gerichtshof in seinen Kompetenzen beschneiden und Teile der palästinensischen Gebiete annektieren zu wollen - Versprechen, die vor allem die Wähler in den Siedlungen gerne hören. Dort beklagt man sich seit vielen Jahren darüber, dass der Oberste Gerichtshof immer wieder ungenehmigte Siedlungen räumen lässt - der vor einigen Wochen veröffentlichte Nahost-Plan von US-Präsident Donald Trump hat zusätzliche Begehrlichkeiten geweckt.
Doch im anderen, säkular, links oder zentristisch orientierten Teil der israelischen Gesellschaft ärgert man sich auch darüber, dass Netanjahu sich regelrecht an das Amt des Regierungschefs klammert, obwohl gegen ihn seit Jahren schon wegen Korruption ermittelt wurde. Die Generalstaatsanwaltschaft entschied Ende vergangenen Jahres, Anklage gegen Netanjahu zu erheben. In zwei Wochen soll das Verfahren beginnen.
Der Versuch, eine Regierung zu bilden, wird damit nun noch ein bisschen komplizierter als nach den vorangegangenen beiden Wahlen. Denn es fällt Präsident Reuven Rivlin zu, einen Abgeordneten mit dieser Aufgabe zu betrauen, wofür dann maximal 42 Tage zur Verfügung stehen. Doch dieses Mal geht es nicht mehr allein darum, wer die größten Erfolgschancen hat. Geklärt werden muss auch die juristische Frage, ob eine Person, die unter Anklage steht, überhaupt in Frage kommt. Denn dem Gesetz nach muss ein Regierungschef erst dann zurücktreten, wenn er verurteilt wurde. Doch ob ein Beschuldigter in einem Strafverfahren dennoch Regierungschef werden kann, um dieses Amt dann während des laufenden Prozesses auszuüben, ist nirgendwo geregelt. Der Oberste Gerichtshof wird deshalb in den kommenden Wochen Klarheit schaffen müssen. So oder so ist klar: Netanjahu, seit 2009 im Amt und insgesamt so lange Regierungschef wie niemand vor ihm, wird nicht derjenige sein, der den tiefen Graben in der israelischen Gesellschaft beseitigen wird, denn er hat ihn verursacht.
Während er seinen eigenen Parteifreunden regelrechte Treuschwüre abverlangte, die rechten und religiösen Wähler mit Versprechungen lockte und seine politischen Gegner gnadenlos angriff, nahmen in den Medien auch die Berichte über die dunklen Auswirkungen der Ära Netanjahu zu: Über Senioren, die den Winter ohne Heizung überdauern müssen, weil die Energie- und Lebensunterhaltskosten so extrem gestiegen sind. Und über ein Gesundheitssystem, das unter massiver Finanznot leidet - während in den Siedlungen gebaut wird. Mit Unterstützung des Staats.
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