- Kultur
- Frauen und Kinder
»Hätte ich entscheiden können ...«
Kinderreichtum ist afrikanisch? Nicht unbedingt. Eine Begegnung mit der Juristin Fatou Faye und der Hotelangestellten Codou Diatta - zwei sehr unterschiedlichen Frauen aus dem Senegal. Von Lotte Laloire
»Der Einzige, der mehr als zwei Kinder hat, ist mein deutscher Chef«, sagt Fatou Faye und grinst. Die 30-jährige Mitarbeiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) in der senegalesischen Hauptstadt Dakar ist alle Bekannten und Verwandten in ihrem Alter durchgegangen. Hat Namen vor sich hingemurmelt, überlegt und dann noch einmal an einer Hand abgezählt, um sicherzugehen. Nein, niemand von ihnen hat mehr als zwei Kinder. »Auch nicht meine Kollegen, die im Eheschein ›Polygamie‹ angekreuzt haben.«
Die Koordinatorin des Programms für soziale Gerechtigkeit sitzt an einem Besprechungstisch im Erdgeschoss des Westafrika-Büros der RLS. Der geflieste Saal ist abgedunkelt, draußen sticht die Mittagsonne vom Himmel. Ab und zu hört man das Dröhnen von Flugzeugen oder ein Truck fährt vorbei. »Hierzulande ist der Mann ›Chef der Familie‹«, erklärt Faye und fügt sofort hinzu: »Wirklich. Das steht in Artikel 152 des ›Code de la Famille‹«. Dieses Gesetz legalisiere das Patriarchat. »Der Ehemann darf festlegen, wo seine Frauen leben, Mädchen können schon mit 16 Jahren verheiratet werden, Männer erst mit 18 Jahren, Mädchen haben nicht das Recht, eigenständig eine Verlobung wieder aufzuheben«, rattert sie die Artikel herunter. Obwohl die Juristin alle auswendig kennt, wird sie von Wort zu Wort wütender. Was das praktisch bedeute? »Manche Mädchen bekommen ihr erstes Kind mit 13 Jahren«, sagt sie. »Das ist grausam.«
Faye selbst ist seit zehn Jahren mit ihrem Partner zusammen. »Es ist die Liebe, die wir füreinander empfinden, gegenseitiger Respekt und unsere gemeinsamen politischen Ansichten, die es uns schon so lange möglich machen, zusammen voranzuschreiten.« Vom Heiraten spricht sie nicht. Ob sie Kinder will? »Höchstens eins vielleicht, später.« Faye spricht klassisches Hochfranzösisch, außerdem kann sie Wolof und Englisch. Umgangssprache verwendet sie nicht - außer bei einem Wort: »gosse«. Das heißt Kind. Damit verbindet die Feministin vor allem Arbeit. »Frauen müssen sich hier um alles allein kümmern, aber das Sorgerecht hat nur der Ehemann.« Eine Schwangere darf nicht einmal recherchieren, wer der Vater des Babys ist. Weiß sie es, darf sie den Mann nicht darauf ansprechen. Und um ihr Kind beim Standesamt anzumelden, muss eine Mutter sich von einem Mann begleiten lassen: von ihrem Ehemann, Bruder oder Vater. Faye bilanziert: »Unser Staat ist von Männern gemacht. Und die stammen eben aus unserer Frauen diskriminierenden Gesellschaft.« Gegen Initiativen aus Industriestaaten des Globalen Nordens, die in Afrika »aufklären« oder Verhütungsmittel verteilen, hat sie nichts einzuwenden. Manche Frauen seien sich der Ungerechtigkeiten nicht einmal bewusst, bedauert Faye. »Die sagen mir, die Polygamie wäre gut für sie, da sie so mehr ›Zeit für sich‹ hätten, wenn die anderen Frauen ›dran sind‹. Können Sie das fassen?« Die Mehrehe für Männer ist hier im Islam erlaubt. Muslime machen im Senegal 94 Prozent aus. Auch Faye trägt Kopftuch, doch sagt, sie sei nicht sehr religiös. Der Feminismus ist ihr wichtiger.
Sie und ihr Umfeld widerlegen das Klischee, Kinderreichtum sei afrikanisch und alle dort wollten viele Kinder. Doch wie sieht das bei anderen Frauen aus? Die Expertin für Frauengesundheit von der Heinrich-Böll-Stiftung in Dakar, Selly Ba, verweist auf eine Langzeitstudie des Gesundheits- und Sozialministeriums von 2016, kurz: EDS. Die zeigt: Die Zahl der Kinder, die eine Frau in ihrem Leben durchschnittlich zur Welt bringt, liegt derzeit bei 4,7. In den 1980ern waren es noch mehr als sechs. »Meine Mutter hatte acht Kinder, meine Schwestern und ich haben maximal zwei Kinder«, erzählt Ba.
Erzählt man in Deutschland von dieser Veränderung, heißt es oft: »Ja klar, gebildete Frauen in den Städten bekommen weniger Kinder, aber fahren Sie erst mal aufs Land.« Gesagt, getan. Nach einer zwölfstündigen Schifffahrt über den Atlantik, die von Delfinen begleitet wird und an Gambia vorbeiführt, erreicht man das Dorf Kabrousse. Es zwängt sich gerade noch so auf den südlichsten Zipfel Senegals, nach Guinea-Bissau sind es von hier keine zwei Kilometer. Hinter kilometerlangen Sandstränden, die bis auf ein paar französische Rentner*innen vom Tourismus unberührt sind, ragen meterhohe Palmen und Baobabbäume auf. Östlich des Dorfs führt eine glatt asphaltierte Straße durch die fruchtbare Region. An Checkpoints stoppen Regierungskräfte auch sieben Jahre nach Ende des bewaffneten Unabhängigkeitskonflikts um die Region Casamance noch alle Passierenden. Schwieriger als sich in der Gegend fortzubewegen ist es, eine Frau zu finden, die Auskunft über intime Angelegenheiten wie ihre Familienplanung geben möchte. Es wäre aufdringlich, wenn eine weiße Journalistin einfach in eine Siedlung hineinspazieren und Frauen ausfragen würde.
Nach einigen Tagen des Smalltalks, der in diesem Land unverzichtbar ist, erklärt sich Codou Diatta, die Köchin und Putzkraft des Hotels »Le Fromager« in Kabrousse zu einem Gespräch bereit. »Das können wir machen«, sagt sie. Wie begeistert sie ist, lässt sich kaum herausfinden, Nein sagen ist in der senegalesischen Kultur schier unmöglich. Die 40-Jährige nimmt auf einer Liege neben dem Hotelpool Platz. Weder in diesem Pool sei sie jemals geschwommen, noch habe sie die weite Welt gesehen oder eine Schule besucht. Ihren Nachnamen buchstabieren kann sie trotzdem und er ist berühmt: Die Widerstandskämpferin Aline Sitoé Diatta führte im Jahr 1942 einen Aufstand gegen die französische Kolonialmacht an, nach ihr ist auch das Schiff benannt, das von Dakar hierher fährt.
Codou Diatta ist wie viele in der Casamance katholisch, ihre Muttersprache ist Diola, aber sie spricht auch Französisch. Sie hat drei Töchter: Aminata (16 Jahre), Thérèse (15), Abi (12) und zwei Söhne: Christophe (18) und Aimé-Baptisse (8). Damit liegt sie nah am Durchschnitt von 5,9 Kindern, den die EDS-Studie für Frauen auf dem Land ermittelt hat. Während aus der Hotelküche Klappern, Lachen und Musik von El Hadji Faye oder Youssou N’Dour kommt, sagt Diatta: »Es ist für mich sehr schwierig, alle meine Kinder zu ernähren.« Und diesen Satz wird sie noch mehrmals wiederholen. »Am Ende des Monats kaufen wir einen Sack Reis. Den kochen wir mit Öl und Zwiebeln. Wenn wir Geld haben, kaufen wir auch mal Nudeln. Jeden Tag Reis, das ist nichts.« Sie verdiene 50 000 CFA im Monat, umgerechnet circa 75 Euro. Anders als rund 40 Prozent der Menschen im Land liegt Diatta damit über der Armutsgrenze von 1,70 Euro pro Tag. Doch es reiche hinten und vorne nicht. Ein höheres Gehalt von dem italienischen Chef zu fordern, würde nichts bringen, meint sie, das Hotel mache zu wenig Umsatz. »Manchmal muss ich die Kinder ohne Frühstück zur Schule schicken«, sagt sie, senkt den Blick und verstummt.
Nach einer Weile sagt sie: »Hätte ich entscheiden können, hätte ich keine Kinder bekommen.« Weder Reue noch Unzufriedenheit liegen dabei in ihrem Gesicht. Traurig wirkt Diatta erst, als sie erzählt, dass sie Witwe ist. »Alleine ist es schwierig.« Ob sie sich heute, sieben Jahre nach dem Tod ihres Mannes, einen neuen Partner wünscht? »Hm, ja, das würde schon gehen. Aber daran denke ich nicht. Das Wichtigste sind die Kinder.«
Auf die Frage, ob sie jemals Verhütungsmittel benutzt habe, antwortet sie nicht, lacht nur. Erst als die Journalistin von sich erzählt, schöpft Diatta Vertrauen. Sie hört auf, an ihrem Rock herumzuzupfen und erzählt von sich aus: »Also, die Pille habe ich nie genommen. Das macht man nicht.« Heute verhüteten Frauen, aber früher hätte hier niemand gewusst, was das überhaupt ist, so die Erfahrung der 40-Jährigen. Dann will sie wissen, wie das in Deutschland läuft und ob die Pille dort verbreitet sei. Als sie die Antwort hört, sagt sie: »Ah, das ist besser bei Ihnen.« Im Senegal sei es schwierig, Verhütungsmittel zu kaufen. »Nicht weil es teuer ist. Eine Packung Kondome kostet 1,50 Euro«, schätzt sie. »Aber in der Apotheke danach zu verlangen, ist merkwürdig. Da wirst du schief angeguckt und gefragt, wofür du die haben willst.« Anders im Krankenhaus: Wenn eine reingeht, weiß keiner, was sie dort will. Auch deshalb ist bei dem Viertel der Frauen, die im Senegal heute Verhütungsmittel nutzen, die Dreimonatsspritze am beliebtesten. »Wenn Ehemänner mitbekommen, dass du verhütest, werden sie fragen: Was ist denn mit dir los? Warum willst du kein Kind?«, sagt Diatta. Sie beugt sich vor und deutet auf eine Kollegin, die mit einem Wäschekorb auf dem Kopf zu einem der Gästebungalows läuft: »Zum Beispiel bei der da. Die wollte verhüten. Was hat ihr Mann für einen Terz gemacht!«, sagt sie mit gesenkter Stimme.
Die Tabuisierung betrachtet Selly Ba von der Böll-Stiftung als Herausforderung. Das Verteilen von Verhütungsmitteln allein sei deshalb keine Lösung. Übrigens lehnten auch Frauen selbst Kondome oft ab, da sie damit den Sex weniger genießen, betont sie. »Und es ist leider so, dass eine verheiratete Frau, die keine Kinder hat, unter großem Druck steht. Für die meisten Senegalesen ist die Ehe gleichbedeutend mit Kindern.« Dahinter stehen Ehemänner, die Gesellschaft, die Hoffnung auf eine Altersvorsorge, die weibliche Sozialisation ebenso wie die eigenen Wünsche der Frauen. Doch statt mit ihnen spricht der Globale Norden meist bloß über sie. Die einen wollen »die Armen in der Dritten Welt« retten, die anderen verkleiden menschenverachtendes Gerede von »Überbevölkerung« als Sorge ums Klima. Beides ist rassistisch.
Wie wäre es, die Frauen einfach in dem zu unterstützen, was sie wollen? Codou Diatta hätte dann nicht fünf Kinder, sondern »einen Bürojob in der Stadt. Ja, das wäre mein Traum gewesen«, sagt sie nach langem Überlegen. Und Fatou Faye? Die kinderlose 30-Jährige wirkt sehr zufrieden mit ihrem Leben, konnte studieren, wie sie es wollte. Sogar ihren Vater habe sie zum Feministen gemacht, erzählt sie stolz. Einige Wochen nach dem Treffen in Dakar schickt sie eine E-Mail: Es tue ihr leid, dass sie so lange zum Antworten gebraucht habe, es sei viel los gewesen. »Ich habe geheiratet.«
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.