Altenheim als Stigma

Im ländlichen Indien bleiben viele Ältere allein, in den Städten wächst die Nachfrage nach Pflegedienstleistungen

  • Natalie Mayroth, Mumbai
  • Lesedauer: 4 Min.

Eine zierliche Frau mit feinem grauen Haar sitzt in ihrem bunten Sari-Kleid auf dem Boden. Vor Saraswati liegen ein Schneidebrett, Tomaten und Zwiebeln. Wenn sie Besuch erwartet, kocht die 80-Jährige selbstverständlich. Sonst wird sie durch eine Haushaltshilfe betreut, die morgens und abends zu ihr kommt. Früher wohnte hier im obersten Geschoss des Hauses ihres verstorbenen Mannes eine achtköpfige Familie. Fünf Kinder hat sie großgezogen. In einem Zimmer erinnern Aufkleber am Schrank daran, dass es einmal ein Kinderzimmer war, doch so weit weg ist die Familie nicht. Im Erdgeschoss lebt ihr Sohn.

Für Saraswati kommt es also nicht infrage, mit im Haushalt ihrer Angehörigen zu leben oder gar in ein Altersheim zu ziehen. Sie hat eine Etage für sich. Durch ihre Witwenpension (als Gattin eines Freiheitskämpfers und Lehrers) reicht das Geld, um sich eine »Maid« zu leisten. Die Hausangestellte verdient 5000 Rupien (65 Euro) im Monat und hilft bei allem, was notwendig ist. Offiziell gelernt hat sie ihren Beruf nicht. Denn es gibt in Indien kaum Ausbildungsmöglichkeiten in der Betreuung und Pflege.

Im westindischen Nagpur kann Saraswati gut leben. Hier sind die Mieten nicht explosionsartig gestiegen wie beispielsweise in der Provinzhauptstadt Mumbai, in der ein anderer Teil ihrer Familie lebt. Platzmangel ist hier auch nicht akut und die Versorgung kostet weniger. In der Millionenstadt Mumbai würde sie das Doppelte zahlen, für eine ausgebildete Krankenschwester etwa das Sechsfache des Gehaltes der »Maid«. Doch gerade in den Metropolen Delhi, Mumbai oder Bangalore herrscht hoher Bedarf. Viele Menschen dort können sich ein würdevolles Altern nicht leisten.

Etwa 60 verschiedene Alterseinrichtungen gibt es in der Metropolenregion Mumbai. Doch in einem Altersheim zu leben, ist für Inder*innen ungewöhnlich. Traditionell werden die Eltern in der Großfamilie von der jüngeren Generation, meist der Frau des ältesten Sohnes, versorgt. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Ehen oft noch arrangiert werden. So reden die Eltern bei der Wahl der Schwiegertochter - und künftigen Versorgerin - mit.

Doch dieses System funktioniert heute immer weniger. Der Trend geht von der Großfamilie hin zu kleineren. Die junge Landbevölkerung zieht es auf der Suche nach Arbeit in die Großstädte, gut ausgebildetes Fachpersonal ins Ausland. Die Eltern bleiben oft zurück. Auch in den Städten hat sich die Haltung gegenüber der Familie verändert. Immer weniger haben die Kapazität, sich um ihre Angehörigen zu kümmern.

»Die Erwartungshaltung an Frauen in Indien ist hoch. Sie sollen sich um den Haushalt kümmern, die Kinder, Eltern und Großeltern, müssen aber in den Großstädten zudem Geld verdienen, um die Lebenshaltungskosten decken zu können«, sagt Sailesh Mishra, der vor Jahren seinen gut bezahlten Marketingjob aufgab, um mit Senioren zu arbeiten. Die Altersfürsorge ist eine große Herausforderung vor allem für weibliche Familienmitglieder. Da müsse ein Umdenken stattfinden, sagt Mishra, in die Richtung, dass Pflegearbeit anders verteilt wird. Dass gerade ältere Menschen zu wenig Anerkennung bekommen, hat ihn dazu gebracht, seinen Beruf zu wechseln. Er begann, in der »Dignity Foundation« zu arbeiten, einer Organisation die Senior*innen seit 25 Jahren sozial unterstützt. Durch private Initiativen entstanden »Lachklubs« und Erholungszentren. Dieses Engagement wird in in den Städten dringend gebraucht. Auf dem Land sei der gesellschaftliche Zusammenhalt noch größer, so Mishra.

Dazu kommt, dass es immer noch mit einem Stigma belegt ist, wenn ältere Menschen statt mit der Familie in einem Altersheim leben. In der Mittelklasse werde oft davon ausgegangen, dass diese Einrichtungen nur für Arme sind. Doch Indien sei viel weiter, sagt Mishra, der das erste betreute Wohnen für Senioren in Indien einrichtete. Seit 2008 betreibt er das Sozialunternehmen »Silver Innings«, das Dienstleistungen für ältere Menschen anbietet, seit 2013 auch eine eigene Wohneinrichtung.

Um der Vernachlässigung entgegenzuwirken, wurde vom Staat 2007 der »Welfare of Parents and Senior Citizens Act« erlassen, ein Gesetz, das potenzielle Erben dazu verpflichtet, sich um ihre Angehörigen zu kümmern. Doch so ganz hat das nicht funktioniert, sodass aktuell im Parlament eine Revision ansteht. Allein lebende Senioren sollen künftig besser in ihren Wohnungen versorgt werden, Seniorentreffs sollen entstehen. Mishra hofft auf Reformen, besonders was die Ausbildung betrifft.

Bedarf sieht er darin, dass mehr Menschen sich für einen Beruf in der Pflege entscheiden. Nicht nur für ihn ist es schwierig, geeignetes Personal zu finden. Die geringe gesellschaftliche Anerkennung mag ihren Anteil daran haben. Doch er bemerkt auch, dass sich in den letzten zehn Jahren viel getan hat, was die Angebote betrifft. Die haben aber auch ihren Preis. Das betreute Wohnen in Mishras Haus kostet umgerechnet rund 500 Euro im Monat, was für viele Inder*innen eine stolze Summe ist.

Besonders der Stadtbevölkerung mangelt es an Pflegeheimen und Pflegekräften. Dabei leben in Indien über 100 Millionen Menschen, die älter als 60 Jahre sind. Bis 2050 werden es 320 Millionen sein - etwa ein Fünftel der Bevölkerung.

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