Ich bin doch keine Ratte, die in alten Gräbern wühlt

Ein kasachisches Lehrstück über Identität, Tradition und postsowjetische Zustände

  • Lesedauer: 8 Min.

Es war schon verdammt spät. Der Mond verließ, nachdem er mit seinen silbernen Strahlen reichlich die Gegend beschenkt hatte, seine Umlaufbahn am Himmel. Selbst die Sterne blitzten nur noch verschämt auf, wurden blass und begannen mählich zu verlöschen. Noel, der seit Nachmittag am seinem Schreibtisch hockte und arbeitete, tat der Hintern weh, seine Lider waren verklebt, und er konnte kaum noch die Augen aufhalten. Er warf durch das Fenster einen Blick in den Hof und wollte schon auf den Balkon gehen. Aber er konnte sich nicht aufraffen.

Wieder war ein neuer Morgen seines Lebens angebrochen. «Würde er uns mit einem Lächeln ins Gesicht sehen? Was sagst du, Mahambet Agha?» fragte er und schaute auf den vor ihm liegenden blanken Schädel. «Ich habe dich aus deinem Grab geholt, konnte dir aber kein Leben einhauchen. Ich habe dein Gesicht rekonstruiert, auf das alle, die sich für Kasachen halten, gewartet haben. Sei es mit mir zufrieden. Schimpfe nicht mit mir. Ich habe keine Kraft mehr. Ich bin völlig am Ende. Ich gehe zurück nach Moskau … »

Rakhymzhan Otarbayev

1846 wird Mahambet, der Dichter und Rebell gegen den Khan, von gedungenen Mördern erschlagen. Mehr als hundert Jahre später rekonstruiert der Anthropologe Noel dessen Gesichtszüge, doch im Wissenschaftsbetrieb schlagen ihm Neid und Missgunst entgegen. In einem uralten Sakengrab entdeckt er eine Silberschale mit einer rätselhaften Inschrift. Niemand interessiert sich für seine Entdeckung.

Enttäuscht verlässt er das Land und geht mit seinem russischen Mentor auf eine Forschungsreise nach Arizona, zu den Nachkommen des legendären Apachen Geronimo. Als das unabhängige Kasachstan sich auf seine Historie besinnt und ein Denkmal für den populären Dichter errichten will, erinnert man sich des Schädels. Doch dieser ist verschwunden. Nun beginnt eine wilde Jagd, denn der Kopf ist eine Million Dollar wert.

Rakhymzhan Otarbayev, Journalist, Radioredakteur, Regisseur und Theaterleiter (1956 – 2018) schrieb anhand authentischer Ereignisse und Personen eine bitterböse Groteske, in der er mit den Zuständen in seiner Heimat hart ins Gericht geht, die zugleich symptomatisch für sämtliche postsowjetischen Staaten sind. Dieses Buch konnte nur unter großen Schwierigkeiten in Kasachstan erscheinen. »Der Schädel«, erschienen im Dagyeli Verlag, ist der erste Gegenwartsroman, der aus dem Kasachischen ins Deutsche übertragen wurde. 

Ihm war, als kehrte in beide Augenhöhlen, groß wie die Handflächen eines Kindes, wieder Leben zurück und die Kieferknochen des Schädels setzten sich klappernd in Bewegung. «Heh, Noel, hast du mich ausgegraben, um mich dann in Almaty einfach wegzuschmeißen? Das ist doch eine ziemliche Erniedrigung!

Ganz deutlich hörte er diese Worte, die aus den klappernden Kieferknochen kamen. Aber es war ihm unmöglich auszumachen, ob das real oder nur ein Traum war.

Noel war ein Schüler des berühmten Professor Gerasimov und der einzige Anthropologe, der in Kasachstan tätig war, dem man dennoch jegliche Anerkennung versagte. Ein junger Mann mit anziehendem Äußeren, gerader Nase und hellem Teint. Damals noch, als er nach Abschluss seines Studiums in Moskau, in seine Heimat zurückkehrte … Große Pläne hatte er und sich geschworen, die Physiognomien aller kasachischen Persönlichkeiten, die mit ihren unverwirklichten Träumen gestorben oder getötet worden waren, wieder ins Leben zurückzubringen. Sommers wie winters machte er sich an Ausgrabungen an Kurganen und uralten Grabstätten. Vom ständigen Hin- und Herlaufen waren seine Schuhabsätze schon ganz schief und abgetragen. Die Sonnenstrahlen hatten sein Basecap durchlöchert und Bleichspuren auf seiner Stirn hinterlassen. Der vernachlässigte Bart war staubbedeckt. Unzählige Spaten und Brechstangen waren abgestumpft von den anstrengenden und langwierigen Ausgrabungsarbeiten, silbrig abgewetzt glänzten ihre Spitzen. Noel hatte eine Vision, die einen Ursprung hatte, bedauerlicherweise aber kein Ende …

Ließen sich doch die Schädel der Toten, nach denen man ihr Antlitz wieder formen könnte, nur an den Orten finden, wo man sie begraben hatte …

Könnte er doch nur das Bild des Khans abbilden, mit dem gabelspitzigen Hut auf dem Kopf, dem bis auf die Brust reichenden silbrigen Bart, seinem gedanken- und sorgenverdüsterten Gesicht, die Zukunft seines Volkes voraussehend, den Blick weit in die Ferne richtend … Auch das seines Bi, der, Schweißtropfen auf der Stirn, mit schütterem Bart, die Sorgen seines Khans teilte und zu seiner Rechten saß … Seines Batyr, der sich knieend und auf die Streitaxt gestützt, mit Glanz in den Augen, an der Türschwelle rechts postiert hatte … Könnte, könnte … Könnte das alles nur möglich sein!

Besessen von seinen Träumen, suchte er mehrere Male das Ministerium für Kultur und Bildung auf. Ebenso war er ein ständiger Gast in der Gesellschaft zum Schutz historischer und kultureller Denkmäler. Auch ließ er bei dieser Lauferei die wissenschaftlichen Forschungsinstitute nicht unberücksichtigt. Du lieber Himmel, jeder dort konnte die von unseren heiligen Urvätern ererbten Lieder, Sagen und Legenden auswendig. Sie rezitierten sie ohne Unterlass. Geriet der eine ins Stocken, kam ein anderer und führte das Wort fort. Am Ende eines jeden solchen Treffens, das ihn nicht unbeeindruckt ließ, sagte er: »Meine hoch verehrten Kollegen, wo sind diese großen Kasachen heute zu finden? Lassen Sie uns nach ihren sterblichen Überresten suchen, rufen wir das Volk auf. Bestimmt sind diese Persönlichkeiten nicht gänzlich verloren gegangen. Anhand ihrer Schädel werde ich Masken von ihnen anfertigen. Ich kann ihr genaues Abbild wiederherstellen. Wir können ihre Porträts Ihren Büchern beilegen. Wir können sie dann auf Teppichen und Lehrtafeln abbilden. Und schließlich können wir ihnen Denkmäler errichten.«

Sobald sie, die eben noch wie die Vögel gezwitschert hatten, diese Worte hörten, entflatterten sie in die Straßen der Großstadt. Er blieb ratlos und allein zurück. Dafür gab es allerdings auch triftige Gründe. Es zeigte sich, dass die Abhandlungen und Dissertationen dieser Leute sich nicht auf Originale stützten, sondern ihnen die Werke respektabler neuzeitlicher Wissenschaftler zugrunde lagen. Mithilfe dieser Werke hatten sie ihre wissenschaftlichen Grade erlangt. Sie machten sich auf hohen Posten breit und stützten einander. Sie hatten überall ihre Leute und ließen Andersdenkende diesen Posten nicht zu nahe kommen. Sie hatten die Zügel in der Hand und lebten gut davon.

Wo und wie waren die Guten und Tapferen gestorben? Warum waren sie wirklich gestorben, was hatten sie im Leben vorgehabt? Wo lagen sie jetzt? Davon hatten ihre heutigen Landsleute kaum Kenntnis noch eine Ahnung, ja, sie bedurften ihrer auch nicht unbedingt … Sie hielten sich davon fern. Nannte man die Dinge beim Namen, gerieten sie in Wut und schimpften sogar auf die Vorfahren, auf die Vergangenheit, in der diese Heroen gelebt, gekämpft und ihre Werke geschaffen hatten.

»Ich soll von irgendjemandem Stück für Stück Knochenteile aufsammeln?« bäumte sich ein Akademiemitglied auf wie ein gefesseltes Pferd. »Vergiss es, mein Lieber. Bleib mir fern. Ich bin doch keine Ratte, die in alten Gräbern wühlt. Du hast auf diesem Gebiet studiert. Mach du es. Viel Spaß damit!«

Noel suchte etliche staatliche Stellen und renommierte Organisationen auf, deren schwere Eichentüren sich nur widerwillig und mühsam öffneten. Völlig niedergeschlagen kehrte er zurück und gelangte letztendlich zu einem Kurgan in Talgar, der einem niederkauernden Kamel glich. Er schien gänzlich unberührt von irgendwelchen Untersuchungen, und also auch noch nicht ausgeplündert worden zu sein. Das bedeutete, dass er vielleicht viele Geheimnisse in sich bergen würde.

Die obere Erdschicht war ganz weich, so bereitete ihm der erste Spatenstich keine Schwierigkeiten. Erst ab der zweiten und dritten Spatentiefe stieß er auf die graubraun gekörnten Steinchen des Hügels. Als es Nachmittag wurde, erschienen seine beiden Helfer, Wowa und Malik. Sie waren seine Freunde, die mit ihm in der selben Straße in Almaty aufgewachsen waren. Beide waren wegen Stellenkürzungen entlassen worden und nun arbeitslos.

»Wenn du hier Gold findest, wirst du es mit uns teilen müssen, das will ich dir im Voraus gesagt haben«, sagte Wowa, dem beständig der Schweiß lief.

»Sonst werden wir es dir einfach wegnehmen. Unsere Frauen und Kinder sitzen hungrig zu Hause,« ergänzte Malik, der nur noch Haut und Knochen war. Das war von den Freunden natürlich nur als Scherz gemeint.

Der Grabhügel, der wie ein kauerndes Kamel aussah, war auf den ersten Blick ganz harmlos. Als sie aber zu dritt mit Spaten und Brecheisen mit aller Kraft auf ihn eindrangen, konnte ihm das nichts anhaben. »Heh, wer seid ihr, die ihr am hellerlichten friedlichen Tag die Berge umgrabt?! Seid ihr Diebe?! Ihr seid wohl Banditen aus der Stadt?« rief ein alter Mann mit schmaler Stirn und zerfurchtem dunklen Gesicht, während er seine Peitsche über ihren Köpfen schwang. »Ich werde euch augenblicklich den zuständigen Behörden melden und einsperren lassen!« Wowa und Malik gerieten richtig in Panik.

Im gleichen Ton fuhr der Mann fort: »Während des Krieges kam eine Gruppe von Betrügern, die sich als Forschungsexpedition ausgegeben haben. Sämtliche Kurgane hier in der Gegend haben sie umgegraben und alle Wertsachen herausgeholt. Vielleicht seid ihr auch solche Banditen?! Sagt sofort die Wahrheit! Sonst … «

Da dieser Unbekannte mit seiner Peitsche drohte, stand Noel von seinem Platz auf. »Aqsaqal, beruhigen Sie sich. Wir haben eine behördliche Genehmigung. Hier ist mein Ausweis. Schauen Sie, wenn Sie mir nicht glauben.«

Immer noch saß der Alte drohend auf dem Pferd, nachdem er den Ausweis und die offizielle Genehmigung gelesen hatte, wurde er auf einen Schlag freundlich. Würdevoll kletterte er von seinem Pferd: »Ich Narr, wieso habe ich diesen Mann nicht erkannt? Mein Gott, du bist doch der einzige Sohn von Zhumabay Shayakhmetov Agha, der einst ganz Kasachstan gelenkt hat. Wir haben gehört, dass du in Moskau studierst. Komm, komm zu mir, lass dich umarmen«, sagte der alte Mann und zog ihn fest an seine Brust. »Wir sind mit Zhumabay Agha verwandt, wir sind als Enkelkinder eines Mannes geboren. Wir erinnern uns sehr gut an seine Güte. Der Selige, er war wirklich ein bescheidener Mensch. Seinen einzigen Sohn hat er in Moskau Archäologie studieren lassen … Wir hatten gehofft, dass du aus Moskau als ein hoher Beamter zurückkommst. Wir dachten, dass du uns zur Stütze würdest … «

Rakhymzhan Otarbayev:
Der Schädel
Aus dem Kasachischen von Adilbek Alzhanov und Jeanine Dağyeli
Dağyeli Verlag, 168 S., geb., 18,00 €

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