Kein Corona-Burgfrieden für Merkel

KLIMA UND WANDEL: Die Corona-Krise erfordert schnelle Antworten der Politik. Opposition und Demokratie dürfen nicht in Quarantäne gehen.

  • Lorenz Gösta Beutin
  • Lesedauer: 5 Min.

Ausgangssperren, Hamsterkäufe, immer mehr Tote, die Corona-Pandemie rollt über die Welt, über Europa, über Deutschland hinweg. Noch stehen wir von Flensburg bis zum Bodensee, von Frankfurt an der Oder bis Köln am Anfang eines Ausnahmezustandes, den es seit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht gegeben hat. Wir alle wissen, worum es bei der Bekämpfung des unsichtbaren Feindes geht.

Wir alle kennen die bunten »Flatten-the-curve«-Diagramme. Wir alle haben die Bilder aus den Krankenhäusern in Norditalien im Kopf. Ungewissheit verunsichert jede und jeden. In solch einer Ausnahmesituation ist die ganze Gesellschaft gefragt, Antworten zu geben, das Verhalten zu ändern, sich umeinander zu kümmern, den Virus zu stoppen. Der gewohnte Alltag steht still, ein neuer Alltag bahnt sich seinen Weg.

Gerade in der Krise schauen alle wie gebannt auf die Regierung. Es sind die politisch Verantwortlichen, die Menschen mit Macht, die Kapitäninnen und Kapitäne in Kanzleramt, in den Bundesländern, den Rathäusern, die darüber entscheiden, welche Antworten auf diese historische Herausforderung gegeben werden. Die Ansprache an die Nation von Kanzlerin Angela Merkel war ein Appell an die Menschlichkeit: Wir müssen zusammenhalten. Es war auch ein Aufruf, der Regierung zu vertrauen. Natürlich hofft wohl jeder im Land, dass die demokratisch gewählten Regierenden die richtigen Maßnahmen treffen.

Aber reicht Hoffnung? Gerade in Zeiten der Krise muss der Macht ganz besonders genau auf die Finger geschaut werden. Wer das Buch »Schocktherapie« der US-Autorin Naomi Klein gelesen hat, der weiß, dass die Krise im modernen Kapitalismus immer eine weitere Verschiebung des Möglichen gewesen ist. Als Margret Thatcher den Kampf gegen die britischen Gewerkschaften aufgenommen hatte, nutzte die »Eiserne Lady« den Falkland-Krieg mit Argentiniens rechter Militärdiktatur, um Kündigungsschutz und Arbeiterrechte auszuhebeln und Privatisierungen durchzusetzen.

Naturkatastrophen wie Hurrikan Kathrina haben zur Vertreibung schwarzer Gemeinschaften in New Orleans geführt, wo sie früher lebten, stehen heute schicke Shoppingmails und Lofts. Dasselbe passierte nach Hurrikan Sandy in New York. Der Schock des Irakkrieg stieß ein ganzes Land ins Chaos, Millionen Menschen starben, den Nutzen hatte die Erdöl- und Kriegsindustrie der USA. Jede Krise hat Gewinner und Verlieren, gerechtfertigt im »Interesse der Nation«.

Für die Opposition heißt es in diesen Tagen darum gerade nicht, dass wir keine Kritik üben. Es heißt nicht, dass es im Bundestag zur einer nationalen Corona-Front zwischen Groko und Oppositionsbank kommt. Wir als linke Opposition müssen kontrollieren, für welche Gruppen in der Gesellschaft Hilfe kommt, und für welche nicht. Wir müssen schauen, an wen die Milliarden an Hilfsgeldern fließen. Welchen Beitrag kann die Wirtschaft leisten, für wen gibt es Steuererleichterungen, Subventionen, billige Kredite mit Steuergeldern.

Wir müssen die Frage stellen nach den wenigen Gewinnern und den vielen Verlierern der Krise. Schon jetzt kommen Forderungen von Union und FDP, mühsam erkämpften Klimaschutz wieder rückgängig zu machen. Es kommen Forderungen, es müsse am Wochenende durchgearbeitet werden. Datenschutz für Handydaten jedes Einzelnen soll für Pandemie-Kontrolle aufgeweicht, die Bundeswehr mehr Befugnisse bekommen, das Asylrecht ausgesetzt werden.

Wir müssen den Finger in die Wunde stecken, die Jahrzehnte des neoliberalen Herunterstutzens von Staat und Allgemeinwohl aufgerissen haben. Die Linke darf nicht nur Reparaturvorschläge unterbreiten in diesen Tagen, was nicht heißt, dass Notmaßnahmen behindert werden. Die Linke muss laut fragen, warum das Wasser so schnell durchs Leck schießt und die untersten Decks am Schnellsten flutet.

Es schlägt einem gerade in diesen Tagen mitten ins Gesicht: In einem der reichsten Länder der Erde, in einer der wohlhabendsten Epochen der Menschheit überhaupt geraten Hunderttausende in Deutschland und Millionen auf der Welt schon nach wenigen Tagen und Wochen ohne Einkommen an den Rand der Existenz. Es reicht eben nicht aus, für die Helden in den Krankenhäusern zu klatschen und die Beschäftigten in den Supermärkten zu loben, dass »sie den Laden am Laufen halten«. Vom Lob der Kanzlerin wird niemand satt.

Der Newsblog zur Corona-Krise - Freitag, 20. März 2020

Wir als linke Opposition müssen gerade jetzt laut und ohne Angst sagen, was ist: Es ist das Kaputtsparen, das Privatisieren vom Grundrecht auf Gesundheit, auf Wohnen, auf Strom, Gas und Wasser, das die Mehrheit der Menschen anfällig und verletzlich macht. In den Krankenhäusern wird auf den Corona-Tsunami gewartet, mit Angst, weil das Krankenhauspersonal schon heute am absoluten Limit angekommen ist. Es sind unfassbar viele in diesem Land, die ihre Rechnungen nicht zahlen können, weil sie keine Ersparnisse haben. Nicht erst seit Corona. Nicht, weil sie nicht wissen, wie man Vorräte für Notzeiten anlegt. Sondern weil sie dazu nicht in der Lage sind.

Weil die Löhne zu gering und die Miete zu hoch ist. Weil viele auf die Straße gesetzt werden, wenn das Geschäft nicht so läuft. Weil es kein Verbot gibt für Stromsperren, kein Kündigungsverbot von Wohnungen für Einkommensschwache. Es sind die Geflüchteten, die vor den Toren Europas am Nato-Draht hängen bleiben, weil die EU die Schotten dicht macht. Es sind hundertausende Obdachlose, hundertausende Migranten ohne Papiere, ohne Arbeitserlaubnis, ohne soziale Absicherung, die der Notstand trifft bis ins Mark. In der Krise darf Politik nicht in die Quarantäne gehen, darf Demokratie nicht auf Eis gelegt werden. Wer Merkels Corona-Burgfrieden mitmacht, hat den Ernst der Lage nicht erkannt.

Lorenz Gösta Beutin ist Energie- und Klimapolitiker der Linken im Bundestag

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