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Distanz und Nähe
Die Epidemie weckt vielerorts Solidarität. In Zeiten des Abstands kommen sich Menschen näher
Ein Abschied. In einer kleinen Dachgeschosswohnung in Leipzig sagen sich zwei Menschen auf unbestimmte Zeit Adieu. Zumindest körperlich. Sie arbeitet im Gesundheitswesen, fährt täglich in eine Klinik auf dem Land. Er gehört zur »Risikogruppe«. Sein Immunsystem ist aufgrund einer Vorerkrankung geschwächt. Trotz jungen Alters raten die Ärzte zu Vorsichtsmaßnahmen. Eine letzte Umarmung auf dem Podest vor dem Fenster. Die Schienen der stillgelegten Bahnstrecke, die in Richtung Völkerschlachtdenkmal entschwinden, scheinen heute noch trostloser. Es ist erst früher Nachmittag, das Zimmer ist in violette Stille getaucht.
Das Coronavirus bringt vielen Menschen jetzt die Trennung auf eine unbestimmte Zeit. Enkel verabschieden sich von ihren Großeltern. Ein Arzt aus Leipzig, der bald in einer Corona-Ambulanz aushelfen wird, erzählt, dass er seine Freunde in nächster Zeit lieber nicht sieht. Aus seiner Wohngemeinschaft will er ausziehen. Besser alleine wohnen, um sie zu schützen. Neben der Todesrate und der schnellen Verbreitung ist dies vielleicht das Schlimmste an dem Coronavirus: Verantwortungsbewusst, emphatisch und solidarisch handelt, wer seine Uroma nicht mehr im Altenheim besucht, wer seinen Nachbarn nicht mehr die Hand gibt und auch sonst auf Abstand geht.
Benjamin Maier hat sich mit der Verbreitung der Coronainfektion wissenschaftlich beschäftigt. Der Physiker am Robert-Koch-Institut forscht zu infektiösen Ausbreitungsprozessen und nutzt dabei hauptsächlich Methoden der Netzwerktheorie und statistischer Physik. Menschen, die gegen die Epidemie ankämpfen wollen, indem sie etwas tun und anderen Menschen helfen wollen, ermutigt er. Doch zugleich warnt er im Gespräch mit »neues deutschland« davor, einfach so »drauflos zu helfen«. Grund dafür sei, dass man sich dabei stärker »durchmischt« als sonst, andere Wege zurücklegt und in kurzer Zeit viele Menschen trifft, die man sonst nicht gesehen hätte. »Das führt zu einem starken Anstieg an Kontakten und so zu einem höheren Risiko für die Allgemeinheit.«
Maier, der auch die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 in China verfolgte, erläutert: Das Besondere an Corona sei, dass vor allem Kinder und junge Menschen zwar infiziert sein können, aber zum Teil nur schwache bis gar keine Symptome zeigen. Trotzdem seien sie dann aber infektiös. Wer jetzt so vielen Menschen wie möglich helfen wolle, dem könne es passieren, dass er sich »bei Familie A das Virus holt, es bei Familie B und Familie C lässt und es abends beim Einkaufen für ältere Menschen erstens im Supermarkt verbreitet oder zweitens auf eben jene älteren Menschen überträgt«.
Deshalb schlägt Maier vor: Wer helfen wolle und sich gesund fühle, mit niemandem Kontakt hatte, der krank war, solle sich einen konkreten Haushalt suchen, um zu helfen. Im besten Fall sei dies ein Nachbarhaushalt. Erstens müsse man sich dann nicht durch die Stadt bewegen, was Durchmischung eindämme. Zweitens sorge man so dafür, effektiver Teil dieses Haushaltes zu werden. Maier: »In China haben wir gesehen, dass die meisten Übertragungen innerhalb von Haushalten stattfanden.« Sollte es also passieren, dass der Haushalt, dem man helfe, infiziert wird, sei es wahrscheinlich, dass auch Helfer oder Helferin infiziert werde. Wenn man aber außer diesem Haushalt sonst niemanden treffe, sei man selbst der Endpunkt einer Infektionskette. Wichtig sei, die Menschen nicht anzustecken, denen man helfe. Dafür müssten die Kontakte mit anderen so gering wie möglich gehalten werden. »Das heißt, keine Kochabende oder Treffen mit Freunden oder dergleichen.«
Benjamin Maier ist Physiker. Am Robert Koch-Institut forscht er zu infektiösen Ausbreitungsprozessen, hauptsächlich mit Methoden der Netzwerktheorie und statistischer Physik. Ausführlicher gibt es seine Empfehlungen zur Nachbarschaftshilfe hier zum Nachlesen.
Das Coronavirus hat auch Solidarität gebracht. Es ist gerade ein schönes Land, wenn man an den richtigen Ecken schaut. Bei Luise Winkler fing es mit einem Zettel im Hausflur an. »Liebe Nachbar*innen«, schrieb die 29-jährige Studentin der Geografie, »sollten Sie zu einer der durch die derzeitige Pandemie betroffenen Risikogruppen gehören, möchte ich Sie unterstützen, gesund zu bleiben und greife Ihnen in den nächsten Wochen gerne unter die Arme.« Zuerst meldeten sich viele Nachbarn, die gar keine Hilfe brauchten, ihre Aktion aber toll fanden.
Der Wunsch zu helfen macht Menschen kreativ. In ganz Deutschland bilden sich Netzwerke, auch in Leipzig gibt es Gruppen in den sozialen Netzwerken - auf Facebook, Telegram und Whatsapp -, in denen sich weit über 1000 Mitglieder organisieren. Doch oft erreicht die Solidarität diejenigen noch nicht, die sie nötig hätten.
Anders an jenem Bretterzaun im Leipziger Osten, nahe dem backsteinernen Turm der Heilig-Kreuz-Kirche. »Lieber Mensch ohne Zuhause«, steht in schwarzen Lettern auf einem gerahmten Blatt Papier an der Wand, an der die Farbe blättert, »bitte nimm, was du dringend brauchst, vom Gabenzaun.« Weiße Plastiktüten mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Getränken sind an das Holz genagelt. Ein alter Mann in braunem Parka steht davor, zieht lange an seiner schwelenden Zigarette. Er murmelt etwas in einer Sprache, die es gar nicht gibt. Dann geht er weiter. Ein Tütchen mit Bananen und Desinfektionsmittel ist nun noch zu ergattern.
Nach einer Woche klingelte bei Luise Winkler das Telefon. Zuerst war die Verbindung schlecht. »Und ich war auch ein wenig schüchtern, um ehrlich zu sein«, erzählt Renate Uhlig später. Der Anruf bei der Nachbarin hatte sie doch einige Überwindungen gekostet. Renate Uhlig lebt seit dem Tod ihres Mannes alleine in einer geräumigen Zweizimmerwohnung. Vor dem Ausbruch der Lungenkrankheit pflegte sie viele Kontakte. »Hauptsächlich zu Frauen meines Alters«, erzählt sie. Inzwischen traut sich keine mehr raus. »Und die meisten sind nicht so gut mit Internet und Telefon vertraut wie ich«, erzählt Uhlig, ein wenig stolz.
Die ehemalige Apothekerin ist über 70 und leidet unter Kurzatmigkeit. Das Virus macht ihr Angst. Per Telefon bittet sie Luise Winkler, für sie einzukaufen und Medikamente abzuholen. Die beiden Frauen treffen sich in der Wohnung von Renate Uhlig, die befindet sich im Dachgeschoss ihres Wohnhauses. Sie besprechen den Einkauf und plaudern ein wenig.
Die Studentin ist darauf bedacht, nichts anzufassen und Abstand zu halten. Als sie mit den gepackten Einkaufstüten zurück in die Wohnung kommt, legt sie lachend ein Dutzend Rollen Klopapier auf den Tisch. Dort liegen schon ein paar Plätzchen, in blaue Servietten eingewickelt. Und selbstgemachter Quittenschnaps. Den brauchen die jungen Leute jetzt mehr als ich, sagt Frau Uhlig.
Luise Winkler bringt nach dem Einkaufen seitdem öfter etwas ins Dachgeschoss. Gegen die Einsamkeit hat die junge Frau mit dem scharf geschnittenen Pony und einem Ring in der Nase ihrer Nachbarin die sozialen Netzwerke Instagram und Twitter auf dem Handy installiert. »Da bekommt man mit, was die Leute so denken«, freut sich Renate Uhlig.
Zusammen haben sich die beiden eine Onlinelesung der Autorin Sibel Schick angehört. »Eine ganz sympathische junge Frau«, sagt Frau Uhlig. Aber so viel verstanden habe sie ehrlich gesagt nicht. »Irgendwie um Feminismus« sei es gegangen, aber anders, als sie das früher in der DDR gelernt hatte. Twitter ist sehr informativ, aber Instagram gefalle ihr persönlich noch besser, »da ist man den Leuten so nah«, kichert sie. Noch liest sie dort aber nur stumm mit, hat bisher keine Beiträge verfasst oder Fotos online gestellt. »Ich möchte doch nicht, dass ich Luise vor ihren Freundinnen peinlich werde«, sagt sie schüchtern lächelnd.
Es sind nicht nur alte Menschen, die durch das Coronavirus besonders gefährdet sind. Elena Zubiaurre muss seit einigen Tagen »höllisch aufpassen«. Mit ihren 27 Jahren gehört sie nicht zu der gefährdeten Altersgruppe. Sie arbeitet in Vollzeit für eine Stiftung. Doch wegen Multipler Sklerose (MS) muss sie regelmäßig Medikamente einnehmen, die ihr Immunsystem modulieren. Ihre Krankheit ist meist unsichtbar, Müdigkeit und Konzentrationsschwächen bemerken andere kaum.
Durch die Corona-Pandemie drängt sich die Krankheit nun in den Vordergrund. Bei Multipler Sklerose trommeln die eigenen Abwehrzellen zum Angriff. Im Gehirn tanzen sie und hinterlassen weiße Flecken, die zu Fehlfunktionen in jedem Bereich des Nervensystems führen können. Die Medikamente, die Elena Zubiaurre einnimmt, sollen verhindern, dass zu viele Abwehrzellen dorthin in den Körper gelangen, wo sie Schaden anrichten können. Dadurch ist sie derzeit besonders gefährdet, sich mit dem SARS-CoV-2-Virus zu infizieren und einen schweren Verlauf der Krankheit zu erleben. Setzt sie das Medikament aber ab, kommt die MS zurück. Eventuell sogar stärker als vorher, »Rebound« nennen Mediziner den Effekt. Die Konsequenz: soziale Isolation.
Ihre Eltern sieht Elena Zubiaurre erst einmal nicht mehr. Ihre Mutter arbeitet in der Kinderbetreuung, das könnte gefährlich werden. Sie hat sich selbst isoliert, in ihrer Wohnung in Hamburg. Das ist eine radikale Entscheidung, aber dies ist ja auch eine radikale Zeit, sagt Elena Zubiaurre. Den Leuten zu erklären, dass sie gerade keinen Kontakt zu ihr haben dürfen, ist oft schwer, nicht alle verstehen das. In ihrer Rede an die Nation hat Angela Merkel vor allem die alten Leute als Risikogruppe angesprochen. Ein bisschen ärgert das die Hamburgerin.
Mit vielen anderen Menschen hat sie das Netzwerk Risikogruppe gestartet. Gemeinsam möchte sie den jungen Menschen, deren Alltag sich unter der Pandemie drastisch verändert, ein Gesicht geben. Die Nachricht ist besonders an Alltagsgenossinnen gerichtet: »Wir sind diejenigen, die ihr gefährdet, wenn ihr weiter Coronapartys feiert.«
Elena Zubiaurre ist es gewohnt, im Ungewissen zu navigieren. Was ganz Europa in den letzten Tagen tut, ist für sie Alltag. Durch die Krankheit musste sie auch bisher jeden Tag neu entscheiden, was zu tun ist. Ärzte und Mediziner helfen da nur bedingt. »Man muss eine eigene Krankheitskompetenz entwickeln«, sagt sie. Auch wenn Corona Menschen wie sie härter trifft: In gewisser Weise war sie besser vorbereitet auf eine solche Situation als andere, schmunzelt sie. Zumindest braucht sie keine Tipps zum richtigen Händewaschen, und Desinfektionsspray findet sich auch schon lange in ihrem Badezimmer.
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