Starkes Europa nur mit Russland

Matthias Platzeck hält bessere Beziehungen zu Moskau auch aus strategischen Erwägungen für dringend geboten

  • Matthias Krauß
  • Lesedauer: 6 Min.

Herr Platzeck, in Ihrem neuen Buch fordern Sie intensive Bemühungen der deutschen Politik um eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland. Warum ist das aus Ihrer Sicht so wichtig?

Egon Bahr hat uns gelehrt, dass es langfristig auf unserem Kontinent keinen Frieden und keine gute Zukunft ohne oder gegen Russland geben wird.

Matthias Platzeck

Matthias Platzeck war von 2002 bis 2013 Ministerpräsident des Landes Brandenburg. Seit 2014 widmet sich der SPD-Politiker als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums der Pflege der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Verbindungen zwischen den beiden Ländern. Dieser Tage ist sein Buch »Wir brauchen eine neue Ostpolitik. Russland als Partner« erschienen (Propyläen, 256 S., 22 Euro) erschienen.

Matthias Krauß sprach mit dem 66-Jährigen über den desolaten Zustand der Beziehungen zwischen Moskau und Berlin, über Wege zu deren Normalisierung und sein persönliches Verhältnis zu Russland.

Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit unserem Verhältnis zu diesem großen Land und beobachte eine ständige Verschlechterung. Manche sprechen mittlerweile von einem Scherbenhaufen. Außerdem mehren sich die Stimmen, die die Lage heute für explosiver halten als im Kalten Krieg. Es gibt also genug Gründe. Außerdem habe meinen Kindern und Enkeln versprochen, einen kleinen Mosaikstein dazu beizutragen, dass sie hoffentlich - genau wie ich - das Glück haben werden, im Frieden aufzuwachsen und alt zu werden.

Eine Entwicklung wie die aktuelle war nach der politischen Wende vor 30 Jahren so nicht absehbar.

Es macht mich traurig, wenn ich mir vor Augen halte, mit welchen Hoffnungen wir 1989/90 gestartet und wo wir inzwischen gelandet sind. Es hat die Charta von Paris gegeben, die davon ausging, dass Krieg keine Rolle mehr spielen würde. Heute wissen wir: Das Gegenteil ist eingetroffen.

Der Philosoph Ernst Bloch sprach mal von den »Narren eines leer laufenden Fortschritts«. Sind die maßgeblichen Politiker in Deutschland diese Narren gewesen?

Wir hatten in den 90er Jahren eine gute Chance, das von Michail Gorbatschow angeregte gemeinsame Haus Europa zu bauen. Wir haben sie nicht genutzt. Manche Chancen kommen nicht so schnell wieder.

Wie wird man Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums?

Ich bin in Potsdam an der Glienicker Brücke quasi unter Russen aufgewachsen, hatte später eine Lehrerin, die nicht nur die Sprache lehrte, sondern uns auch für russische Kultur begeisterte. Und in den 70ern war ich zum Austauschpraktikum in der Sowjetunion.

Später wurde ich Vorsitzender der Deutsch-Russischen Freundschaftsgruppe des Bundesrates. Den Ruf des Deutsch-Russischen Forums habe ich dann 2014 sehr gern 2014 angenommen. Diese zivilgesellschaftliche Organisation versucht, mit Städtepartnerschaften, Sprachwettbewerben, Konferenzen und Austauschprogrammen Brücken zwischen unseren Völkern zu bauen und zu erhalten. So hat mich das Thema durch mein ganzes Leben begleitet. Übrigens kann man bis heute spüren, dass die Vielzahl alter Kontakte der Ostdeutschen bei ihnen bis heute für ein etwas entspannteres Russland-Bild sorgt, als man es im Westen oft antrifft.

Diese Teilung hat Tradition. Ein Teil Deutschlands blickte lange Zeit vorwiegend nach London und Paris, der andere nach Moskau ...

Das hat die jüngere Geschichte so mit sich gebracht. Wir sollten bei allen derzeitigen Problemen nie vergessen, dass es keine anderen zwei Völker gibt, die über Jahrhunderte so eng miteinander verbunden sind wie Russen und Deutsche. Wir hatten gute, für beide Seiten sehr fruchtbare Zeiten und auch tragische, ja schreckliche Phasen. Übrigens gefällt mir bis heute das geflügelte Wort: Russland ist anders. Deutschland auch.

Was ist dann aber das Problem?

Leider gibt es nicht nur ein Problem. Vielleicht bleiben wir aber mal beim 75. Jahrestag des Sieges über den Faschismus. Viele Russen nehmen sehr wohl wahr, dass ihre Leistungen im Zweiten Weltkrieg in westlichen Darstellungen oft als nachrangig angesehen werden und eher der »D-Day«, also die Landung der Westalliierten in der Normandie, oder die Ardennen-Schlacht als entscheidende Ereignisse bei der Bezwingung des Hitler-Regimes gefeiert werden. Als hätte es die entscheidenden Schlachten vor Moskau, von Stalingrad oder in Kursk nicht gegeben.

Ein weiteres Beispiel: Bei der Gedenkveranstaltung im französischen Oradour-sur-Glane zum 70. Jahrestag des Massakers, bei dem die Waffen-SS dort am 10. Juni 1944 fast alle Dorfbewohner ermordet hatte, waren Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel anwesend.

Ich hielt mich damals gerade in Minsk auf. Allein im heutigen Belarus gibt es 629 Ortschaften, denen es wie Oradour erging. Die Bewohner wurden von den Deutschen umgebracht, es gab kaum Überlebende. In keinem dieser Orte konnte 2014 zu Gedenkfeiern ein deutscher Staatsgast begrüßt werden. Die - keineswegs nett gemeinte - Frage an mich war: Unterscheidet ihr eigentlich Opfer erster und zweiter Klasse?

Welche weiteren Missverständnisse fallen Ihnen ein?

Wenn ich mit Russen über Themen wie Marktwirtschaft und Privatisierung von Betrieben rede, dann sind dies Begriffe, die in Deutschland positiv konotiert sind. In Russland rufen sie immer noch bei vielen Skepsis und Ablehnung hervor.

Die Russen verbinden mit ihnen die für Millionen Menschen katastrophale Entwicklung in den 1990er Jahren. Sie brachte Reichtum für wenige, Armut für viele und am Ende 1998 einen Staatsbankrott. Das sind Zustände, die man keinem wünscht.

Aber die Russen haben das doch halbwegs überwunden.

Ja, und das hängst nicht zuletzt mit dem Wirken von Präsident Wladimir Putin zusammen. Er hat aus der Sicht vieler Russen Ordnung geschaffen und den Menschen wieder eine Perspektive gegeben. Das hat trotz autoritärer Regierungsform ein solides Fundament an Zustimmung erzeugt.

Zunächst waren ja die Blicke der deutschen Politik auf Russland jahrelang recht freundlich.

Ja, solange Russland so schwach war, dass es nur mit sich selbst befasst war und eigene Interessen nicht formulieren konnte. Die Bedingung dieser Nettigkeit war, dass Russland den Status als Weltmacht komplett aufgeben sollte. Da ist inzwischen einiges anders geworden.

Da wir den Wunsch Russlands nach der Einbindung in eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur nicht aufgenommen haben, ist man in Moskau einen Weg gegangen, der uns heute viele Sorgen macht.

Erfordern die Entwicklungen in der Ukraine und auf der Krim nicht den Schutz der baltischen Staaten und Polens durch die Nato?

Ich kann die Sorgen der Balten oder der Polen auch vor dem Hintergrund ihrer Geschichte nachvollziehen. Gleichzeitig halte ich es aber für schlicht undenkbar, dass Russland auf die Idee kommen könnte, Polen zu überfallen. Allerdings würde ich mir von Russland als dem großen Nachbarn mehr Bemühungen um einen Wiederaufbau des gegenseitigen Vertrauens wünschen. Übrigens, nicht nur am Rande: Die Rüstungsausgaben der USA sind etwa elf Mal so hoch wie die der Russen.

Was schlagen Sie vor?

Wir sollten mal innehalten und uns die Welt in 20 Jahren vorstellen. Die Existenz von zwei wirtschaftlich und militärisch starken Polen wird auch dann noch relativ unstrittig sein: Ostasien mit China, Japan, Südkorea und Vietnam sowie Nordamerika mit den USA, Kanada und Mexiko. Die offene Frage ist: Wo wird in diesem Konzert Europa stehen? Allein und ohne Rohstoffe, übrigens auch ohne all die für Hightech und Energiewende nötigen Materialien, oder in einer sinnvollen Partnerschaft mit Russland? Wenn wir uns diese Frage beantworten, finden wir auch Wege zueinander.

Sie beschreiben ziemlich genau die Welteinteilung, die George Orwell in seinem Roman »1984« ausgemalt hat. Sind Sie dennoch optimistisch?

Was mir Hoffnung macht, ist, dass stabil 70 bis 85 Prozent der Deutschen von der Bundesregierung erwarten, dass sie unser Verhältnis zu Russland verbessert.

Außerdem: Wer sich lange mit Russland beschäftigt, muss davon ausgehen, dass Sisyphus ein glücklicher Mensch war. Und vielleicht bleibt der Stein ja doch mal irgendwann oben liegen.

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