Orbán liegt voll im Trend

Ungarns Regierungschef will Parlament und Kritiker kaltstellen. Auch andere europäische Staatsmänner regieren zunehmend autoritär. Von Aert van Riel

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 4 Min.

Viktor Orbán hält sich nicht lange mit Fakten auf. Für den ungarischen Regierungschef war schnell klar, wer für die Ausbreitung des Coronavirus verantwortlich ist. Viele Geflüchtete, sagte Orbán kürzlich, machten sich über den schwer von der Pandemie betroffenen Iran auf den Weg nach Europa. Sie seien wichtige Träger der Krankheit. So einfach ist das.

Orbán ist einer der Nutznießer der gegenwärtigen Krise. Sein Traum von einem härteren Grenzregime wird gerade europaweit verwirklicht. Zudem hat der Ungar einen neuen Anlass gefunden, um Verschwörungstheorien über muslimische Migranten zu verbreiten. Sie sind ein von Orbán und seinen Mitstreitern erschaffenes Feindbild, das die ungarische Bevölkerung zusammenhalten und von krasser sozialer Ungleichheit im eigenen Land ablenken soll. Die reichsten 20 Prozent in Ungarn können sich 3,7 Mal höhere Konsumausgaben leisten als die ärmsten 20 Prozent.

Doch damit nicht genug. Orbán will die Coronakrise auch nutzen, um seine Macht auszubauen. Seit Beginn dieser Woche befasst sich das Parlament in Budapest mit einem Entwurf, wonach es im Krisenfall von der Regierung in den Urlaub geschickt werden kann. Orbán könnte dann mit Dekreten regieren. Die Empörung über dieses Vorhaben war auch in deutschsprachigen Medien groß. So prognostizierte die »FAZ«, dass die EU bald eine Diktatur in ihrer Mitte haben könnte. Die Kritik an Orbán ist berechtigt, allerdings muss auch bedacht werden, dass er mit seinem Vorgehen nicht alleinsteht, sondern einem Trend folgt, der sich in mehreren europäischen Staaten beobachten lässt.

Parlamente gelten auch für die mächtigen Politiker anderer europäischer Länder als Institution, die möglichst geräuschlos die Vorlagen der Regierung abnicken und ansonsten wenig Einfluss haben soll. Der französische Präsident Emmanuel Macron will seine Vorhaben - ähnlich wie seine Vorgänger François Mitterrand, Jacques Chirac oder François Hollande - zuweilen per Dekret durchsetzen. Jüngstes Beispiel waren Macrons Rentenreformpläne. Der Verfassungsartikel 49.3 erlaubt es der französischen Regierung, eine Parlamentsdebatte zu unterbrechen und mit einer Vertrauensabstimmung zu beenden. Der linke Oppositionspolitiker Jean-Luc Mélenchon warf Macron kürzlich einen »totalitären Antrieb« vor.

Ähnliches lässt sich über den britischen Premierminister Boris Johnson sagen. Weil er es im vergangenen Jahr mit einem widerspenstigen Parlament zu tun hatte, wollte er die Abgeordneten in den Zwangsurlaub schicken, um seine Brexitpläne durchzusetzen. Das oberste britische Gericht stoppte letztlich die Vorhaben des rechtskonservativen Politikers. Seit seinem Erfolg bei der britischen Neuwahl Ende 2019 verfügt Johnson über eine komfortable Mehrheit im Unterhaus und hat somit freie Hand.

Macron, Johnson, Orbán sowie andere europäische Staats- und Regierungschefs weisen ähnliche autoritäre Züge auf, aber ihre Macht wird unterschiedlich stark durch demokratische Kontrollmechanismen eingeschränkt. Während Macron sich noch mit einer kritischen Öffentlichkeit und Johnson mit Gerichten herumschlagen muss, bringt Orbán derzeit nahezu alle Institutionen auf seine Linie oder stellt Kritiker kalt.

Die demokratischen Oppositionsparteien im ungarischen Parlament - Liberale und Sozialdemokraten - sind schwach. Zweitstärkste Partei ist die neofaschistische Jobbik. Orbán Partei Fidesz hat in der Kammer eine Zweidrittelmehrheit. Offensichtlich will der Regierungschef die Abgeordneten je nach Bedarf nach Hause schicken, weil er nicht einmal mehr Kommentare aus der Opposition zu seinen politischen Entscheidungen duldet. Wahlen sind für Orbán schon längst nur noch Formsache und dienen der Legitimierung seiner Macht.

Orbán hat schon mehrere Überlegungen angestellt, wie er die Justiz an die Kandare nehmen kann, manche hat er nach Kritik vonseiten der EU zurückgenommen. Beruhigend ist das nicht. Wenn die ungarische Justiz nicht in seinem Sinne entscheidet, ignoriert Orbán nämlich zuweilen einfach die Urteile. Weil in der Gemeinde Gyöngyöspata ein Apartheidsystem geschaffen wurde, das Kinder der Roma-Minderheit benachteiligt, sprach das Bezirksgericht in Debrecen den Roma im September 2019 eine Entschädigung in Höhe von 300 000 Euro zu. Der Regierungschef verweigerte die Auszahlung.

Die kritische Berichterstattung ist in Ungarn zusammengeschrumpft. Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen befindet sich die regionale Presse seit dem Sommer 2017 im Besitz Orbán-freundlicher Unternehmer. Im Herbst des Folgejahres seien rund 500 regierungsnahe Medienunternehmen in einer Holding zusammengefasst worden, um ihre Berichterstattung zentral zu koordinieren. Mehr oder weniger regierungskritische Medien wie die sozialdemokratisch beeinflusste Zeitung »Népszabadság« konnten sich nicht am Markt halten und wurden eingestellt. Die verbliebenen regierungskritischen Journalisten könnten durch ein neues Gesetz zur Coronakrise mundtot gemacht werden - es bestraft Menschen mit Gefängnisstrafen bis zu drei Jahren, wenn sie eine wahre Tatsache auf eine Weise wiedergeben, die dazu angetan ist, »größere Gruppen von Menschen zu beunruhigen«.

Wenn sich die Coronakrise verschärfen sollte, die auch den gegenwärtigen Kapitalismus betrifft, wird der Autoritarismus in Staaten der EU und weltweit zunehmen. In Ungarn ist er nur weiter fortgeschritten als anderswo.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -