In der Holzklasse um die Welt

1919 packt die junge Alma Karlin ihre Reiseschreibmaschine und schifft sich nach Japan ein

  • Lesedauer: 8 Min.

So will ich über’n Erdball zieh’n.
Genießen froh und schauen,
Und, was mir Schönes ward verlieh’n,
Den Blättern hier vertrauen.

Cilli.

Ich bin das einzige Kind meiner Mutter und habe es immer behaupten hören - von der Stimmenmehrheit meiner Verwandten in jedem Fall -, daß diese Beschränkung auf ein

Einsame Weltreise

»Es war eine ungemein stürmische Zeit, zu der Leute ohne Entzündung der Einbildungsnerven wohl zu Hause geblieben wären.«
Am 24.11.1919 bricht Alma Karlin zu ihrer Weltreise auf, die sie in den folgenden acht Jahren auf fünf Kontinente führen sollte. Durch ihre Reiseerlebnisbücher, die sie nach ihrer Heimkehr nach Cilli (slowenisch Celje) verfasst, wird sie zu einer der berühmtesten und meistbewunderten europäischen Reiseschriftstellerinnen.

In »Einsame Weltreise« beschreibt Karlin die ersten vier Jahre ihrer Weltumrundung. Von Europa aus fährt sie – ihre Schreibmaschine »Erika« im Gepäck – nach Südamerika, von dort über Kalifornien und Hawaii nach Japan, dem erklärten Ziel ihrer Reise, und weiter nach China. Im Gegensatz zu anderen Reisenden hat sie kein Vermögen, aus dem sie ihre Reise finanzieren könnte.
Sie arbeitet unterwegs als Dolmetscherin und Sprachlehrerin und lebt in einfachen Unterkünften abseits der damals für Europäer*innen üblichen Ziele. Ihr ironisch-kritischer Ton und ihr Blick für den Alltag und die sozialen Gefüge der von ihr besuchten Länder zeichnen Karlins Reisebuch aus.

Exemplar klar als unzweifelhafter Segen aufgefaßt werden müsse. Überdies bin ich, und das soll ein Grund weiterer Belastung sein, auch Schriftstellerin. Einige Jahre hindurch hatte ich sogar den Sprachenwahnsinn, das heißt, ich versuchte meinen jugendlichen Weltschmerz durch das Eindringen in fremde Sprachen zu ertränken, und obschon dieser Zweck nicht erfüllt wurde, blieb mir ein beträchtliches Wissen, das mich glauben ließ, ich könnte nötigenfalls überall auf der Welt mein Brot verdienen. Um mich für eine etwaige Reise in fremde Erdteile weiter auszurüsten, lernte ich so viel malen, daß ich Blumen richtig wiederzugeben vermochte. Als nun gar meine Skizzen, Gedichte usw. in allerlei Blättern Aufnahme fanden und ich im Sommer 1919 meinen ersten Roman verkauft hatte, erkrankte ich an jenem heimtückischen Übel, »der geschwollene Kopf« genannt, entwickelte Anzeichen von Größenwahn, sah mich schon als modernen Columbus eine neue Welt entdecken und traf ernstliche Vorbereitungen zur Eroberungsfahrt.

Es war eine ungemein stürmische Zeit, zu der Leute ohne Entzündung der Einbildungsnerven wohl zu Hause geblieben wären. Die Nachkriegswehen waren schlimmer als der Krieg selbst, doch war ich mir ihrer Schwere damals noch nicht bewußt geworden. Nachdem ich den Kriegsanfang in Feindesland - in London - mitgemacht, ein Jahr in Norwegen, eins in Schweden zugebracht hatte, durch das verbündete Deutschland nach Österreich zurückgekehrt war und hier die ganze Kriegsnot an mir vorbeirollen gesehen, war ich fast ohne Wissen und Wollen Staatsbürgerin eines fremden Staates geworden.

Man war damals epidemisch vom Geldfieberwahn befallen; man kaufte und verkaufte Valuten; der Börsenbericht war mein Lesestoff, die Lira, der Dollar, das Pfund mein Traum. Als ich endlich reisefertig war, bestand mein Gesamtvermögen, durch Sprachunterricht erworben, aus hundertdreißig Dollars und neunhundertfünfzig Mark, so wenig ergaben mehr als zehntausend, damals im Sturz begriffene österreichische Kronen! Die Lira war plötzlich so hoch gestiegen, daß mein geblendetes Auge sie nicht mehr wahrnahm. Die Mark dagegen war fast unsichtbar, ehe ich recht in die Fremde gekommen. So verblieben einzig die Dollars.

Ebenso schwer war es, ein Visum zu erhalten. Indien wies ab, Ägypten war streng geschlossen, Holland verlangte für die Kolonien Goldwährung zur Einreise; nur Japan visierte anstandslos. Ich vertraute blindlings auf mein Wissen, trieb kühn ins Unsichere hinaus - ganz wie ein ahnungsloses Kind in ein leckes Boot klettert. Ich dachte mir die Welt wie Europa …

Am 24. November 1919 nahm ich Abschied. Eigentlich wollte ich es nicht. Am Ende war es leichter, sich vom Strom der Gewohnheit tragen zu lassen; aber etwas in mir drängte: Es muß sein. Was mich da zwang, war nicht Abenteuerlust; es war der Ruf einer gestellten, unabweisbaren Aufgabe. Seither habe ich stets an eine Vorbestimmung geglaubt.

Im Speisezimmer meines Vaterhauses (ein uralter Bau, teilweise an die einstige Ringmauer angebaut und auf Römerboden stehend) brannte die Hängelampe. Ich nahm Abschied von meiner bejahrten Mutter, wohl auf immer. Ich weinte nicht. In feierlichen Augenblicken stehe ich darüber. Echtes Leid ist wie ein trockener Blitz, gefährlicher als das folgende Unwetter mit Regen.

Mankerl, mein Hund, gab mir die Pfoten, beide unzählige Male. Bei ihm hätte ich weinen können. Er saß so komisch da und wackelte mit den Pfoten wie eine Windmühle mit den Flügeln, ganz ohne Ahnung, daß wir auseinanderglitten. Später würde er suchen und suchen und endlich vergessen. Es war wie das Sinnbild alles Seins.

Der Bahnsteig war finster, der überfüllte Zug jammerte in die Halle. Ein feiner Regen, der schon halb Schnee war, durchfröstelte mich. Ich stand auf dem Trittbrett, meine Freunde umringten mich. Ich hob die geliebte Erika ins Netz und winkte noch einmal.

Knarrend fuhr der finstere Zug aus der finsteren Halle. Lichter gab es nur die mitgebrachten. Im Aschenbecher steckte die Kerze eines Mitreisenden. Das gegenseitige Mißtrauen des Nachkriegs lastete auf uns allen. Mein Fuß ruhte schwer auf meinem Koffer, dem einzigen, den ich mitgenommen; mein Auge hing an der Schreibmaschine. Ein Schlafenwollen wäre auch ganz zwecklos gewesen, denn jede Viertelstunde steckte eine verhüllte Gestalt den Kopf zur Türe herein und befahl kurz: »Papiere!« Aber sobald sie »Japan« als Reiseziel gelesen, gaben sie den Paß wortlos zurück, denn jeder dachte wohl gleich: »Da fährt ein Narr, der besser außer Land bleibt«, und ich hatte Frieden.

In Steinbrück mußte ich aussteigen und bis drei Uhr morgens warten. Niemand hatte eine Ahnung, wann der Orient-Expreß durchfahren würde. Man lauerte auf ihn zusammengepfercht im rauchigen Wartezimmer. Als wir endlich im dunklen Zug dahinsausten, sah ich auf die schneeigen Flächen hinaus. Wie flehende Arme streckten die kahlen Bäume die Äste nach mir aus, und der Mond grinste aus brechendem Gewölk. In Laibach mußte man neuerdings umsteigen, und ein freundlicher Amerikaner, der selig war, den Staub des angekränkelten Europa von den Füßen zu schütteln, zog mich in sein Abteil. Ich spielte Dolmetsch an der Grenze, was den Zollbeamten indessen nicht hinderte, meinen Koffer - dessen Schlüssel im Abschiednehmen von meiner Freundin wohl abgezogen, doch nicht mir eingehändigt worden war - mit seinem Säbel aufzubrechen. Diese Verletzung verwandt mein treuer Kleiderbehälter nie ganz.

Als es zu tagen begann, glitt der Expreß von Obicina talwärts. Das Meer war silbergrau voll silbergrauer Segel. Alles war so unheimlich still, daß mich ein unerklärliches Grauen beschlich. Nichts als das sich verdichtende Grau und das dumpfe Rollen des Zuges. Ich stand auf der Schwelle meiner lorbeerreichen Columbuszukunft und blieb kühl. Allerdings - ich war durchfroren, und es drehte sich der leere Magen. So besiegt der Körper die unsterbliche Seele ...

Triest.

Das war der erste Prüfstein meines Mutes und meiner Geduld. Ich wohnte bei zwei alten Tanten und schlief im Zimmer einer langsam Dahinsterbenden. Durch meine Zukunftsträume zog ihr Seufzen und Stöhnen, und der einsetzende Verwesungsgeruch verfolgte mich Tag und Nacht. Zunehmende Kälte draußen, die endlose, herzbrechende Suche nach Schiffen - entweder fuhren sie nicht, wohin ich wollte, oder sie verlangten Goldwährung als Bezahlung -, die Furcht, das mühsam verdiente Geld schon in Europa zu verbrauchen, trübten die entfliehenden Tage. Ich stand unten am Strand, starrte auf die weißblauen Wasser, die kreisenden Möwen, das rotglutende Karstgefels bei Sonnenuntergang, das tiefrote Spätherbstlaub in geschützten Winkeln und versuchte, den sinkenden Mut hochzuschrauben.

Einmal klagte ich einem alten Seebären mein Leid, und er sagte: »Gehen Sie getrost, wer so viele Sprachen spricht, trägt ein Vermögen mit sich herum!« Das mochte ganz wahr gewesen sein, aber woran wir beide nicht dachten war, daß nicht jede Bank einen derartigen Wechsel honoriert. Mein Vermögen glich nicht selten dem vergrabenen Golde eines Geizhalses …

Auf wiederholtes Anraten entschied ich mich zur Reise über Südamerika, denn wenn alle Wege nach Rom führten, so brachten wohl auch alle mich einmal nach Japan. Der kürzeste Weg war es nicht, aber allem Anscheine nach der einzig offene.

All’ das kam so: Gerade als ich eines Abends entmutigt heimkehrte und mehr als ein Italiener mir zuraunte, daß er mich begleiten wolle, erfuhr ich, daß ein leer nach Japan zurückkehrendes Schiff mich um dreißig Pfund Sterling mitnehmen würde. Meine Begeisterung war ohne Ende. Die noch nicht Sterbende meiner Tanten, die weise war und nie etwas direkt verbat, bemerkte beim Abendbrot: »Sobald du Triest einmal verlassen hast, esse ich keine Fische mehr.«

»Warum denn nicht?« forschte ich erstaunt.

»Weil ich nicht Menschenfresser wer- den will, denn bist du einmal allein auf dem Scotland Maru, so werden dich die Japaner mißbrauchen und dich hierauf ins Meer werfen. Die verschiedenen Fische werden sich an deinen Resten gütlich tun und ...« sie zuckte vielsagend die Achseln.

Ich sagte nichts. Ich betrachtete das Schiff, die fremde Mannschaft, das eigentümliche Treiben - und zögerte. Wie vielen Leiden und Gefahren wäre ich entgangen, wenn ...aber nutzlos ist es, zu klagen. Wer erhängt werden soll, der ertrinkt nicht, ist ein wahres Sprichwort. Ich sammelte daher Visum auf Visum für Südamerika. Das von Chile kostete 30 Lire, also 240 Kronen! Dafür hatte ich das Recht, Chile von Ende zu Ende abzutrappeln. Und dann ... aber warum vorgreifen? Ich wurde ärmer, je reicher mein Paß wurde. Alle Schiffe fuhren direkt nach Argentinien, und diese Regierung verlangte eine Menge Zeugnisse: daß man nie seinen Lebensunterhalt mit Betteln verdient; daß man nie vorbestraft gewesen; daß man nicht erblich belastet und besonders, daß man gesunden Geistes war. Diesen letzten Punkt hatte man in meiner Vaterstadt und noch mehr im engeren Familienkreise immer angezweifelt, und daher führte mich meine Tante lieber zu einem italienischen Arzt, der mich mit einem einzigen Blick aus halbem Auge streifte und mir den gesunden Geist bescheinigte. Es gibt noch vertrauensselige Menschen!

Alma M. Karlin:
Einsame Weltreise
Aviva Verlag, 400 S., geb., 22,00 €

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.