27 Corona-Tote in nur einem Heim
Weitere Sterbefälle in niedersächsischen Pflegeeinrichtungen / Gesundheitsministerin des Landes verhängt Aufnahmestopp
Erschreckend schnell hatte sich das Coronavirus in dem von der evangelischen Diakonie im niedersächsischen Wolfsburg betriebenen Hanns-Lilie-Heim ausgebreitet. Binnen kürzester Zeit waren dort Ende März 15 Menschen infolge einer Ansteckung mit dem lebensbedrohenden Erreger gestorben. In der Einrichtung, die 165 zumeist ältere demenzkranke Frauen und Männer beherbergt, war etwa die Hälfte der Bewohner positiv auf Corona getestet worden. Rasch nahm die Zahl derer zu, die das neuartige Virus und seine Folgen nicht überlebten, und stieg auf derzeit 27 Tote.
Trifft das Heim irgendein Verschulden daran? Das will ein Rechtsanwalt durch die Justiz geklärt wissen. Er hat gegen den Träger des Heimes, die Diakonie Wolfsburg, Strafanzeige wegen Verdachts auf fahrlässige Tötung gestellt. Der Jurist gründet seinen Schritt auf Vorwürfe, die aus dem Kreis der Heimmitarbeiter stammen sollen. Demnach seien Pflegekräfte nach Ausbruch der Pandemie angewiesen worden, die ihnen anvertrauten Menschen nur einmal monatlich zu waschen; auch habe das Personal keinen Mundschutz getragen, angeblich, um die Patienten durch diesen Anblick nicht zu verschrecken. Was an diesen Vorwürfen dran ist, dürfte nun die Staatsanwaltschaft prüfen.
Schon als sie von den 15 ersten Toten im Wolfsburger Heim erfuhr, hatte Niedersachsens Gesundheitsministerin Carola Reimann (SPD) ein Aufnahmestopp für alle Alten- und Pflegeheime im zweitgrößten Bundesland erlassen. »Die Entwicklungen lassen uns keine andere Wahl, als noch härtere Bandagen anzulegen und weitere Maßnahmen anzuordnen«, begründete die Ressortchefin ihre Entscheidung vor der Landepressekonferenz. Ausnahmen vom Aufnahmeverbot gibt es, aber nur, wenn sichergestellt ist, dass ein neuer Bewohner oder eine neue Bewohnerin kein Corona in das jeweilige Heim einschleppt. Diese Voraussetzung ist beispielsweise gegeben, wenn die Einrichtung eine zweiwöchige Quarantäne des Neuzugangs gewährleistet.
Zum Schutz vor Corona in Heimen hatte das Landesgesundheitsministerium bereits Mitte März allen einrichtungsfremden Personen das Betreten der Heime verboten. »Trotz aller Beschränkungen, Bitten und Auflagen haben uns leider zahlreiche Hinweise erreicht, dass das Besuchsverbot nicht überall befolgt wurde«, bedauerte Ministerin Reimann. Besonders unverantwortlich sei »die mehrfach berichtete Praxis«, dass Angehörige mit Heimbewohnern die Einrichtung verließen, um gemeinsam mit ihnen im Familienkreis etwas Zeit zu verbringen. Dabei setzten sie ihre Lieben einer erheblichen Infektionsgefahr aus, mahnte die Reimann. »Die Einschränkung von sozialen Kontakten, Besuchsverbote und die konsequente und frühzeitige Isolierung ist das einzige Mittel, was uns derzeit im Kampf gegen Corona zur Verfügung steht«, gab die Politikerin zu bedenken.
Ob alle entsprechenden »Mittel« gegen Corona in einem weiteren Heim in Niedersachsen, in der Seniorenresidenz »Atrium am Wall« in Wildeshausen, angewendet wurden, wird die Staatsanwaltschaft prüfen. Denn auch in jener Einrichtung, ungefähr 40 Kilometer südwestlich von Bremen gelegen, sind zwei ältere Menschen an Corona gestorben. Die Strafverfolgungsbehörde ermittelt, ob Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz begangen wurden. Dem Vernehmen nach sind mit dem Virus infizierte Personen in einem Flur des Heimes umhergegangen, und der Leiter des Hauses soll sich ohne Schutzkleidung im Zimmer eines Mannes aufgehalten haben, der zwar nicht an Corona, aber an einer schweren Lungenkrankheit leide. Der Heimleiter ist inzwischen freigestellt worden.
Eine dritte Pflegeeinrichtung in Niedersachsen, das »Johannisheim« in der nahe Hamburg gelegenen Hansestadt Stade an der Elbe, meldet ebenfalls zwei Virustote. Von den 118 Bewohnerinnen und Bewohnern waren neun positiv auf Corona getestet worden. Zwei von ihnen sind verstorben: eine 79-jährige Seniorin und eine 97 Jahre alte Frau.
Dies sind drei Beispiele aus Niedersachsen, die zeigen, wie sehr ältere, pflegebedürftige Menschen vom neuartigen Coronavirus bedroht sind. Die Situation in den deutschen Alten- und Pflegeheimen verschlechtere sich durch die Coronakrise erheblich, warnt die Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes, Gerda Hasselfeldt. »Wenn wir nicht aufpassen, werden die Krankenhäuser in den nächsten Wochen viele Patienten aus solchen Einrichtungen zur Behandlung aufnehmen müssen«, sagte sie.
Sofern das geschehen sollte, werden die 28 000 derzeit in den deutschen Kliniken vorhandenen Intensivbetten nicht ausreichen. Bund und Länder haben deshalb vereinbart, die Intensivkapazitäten zu verdoppeln, heißt es aus dem Bundesgesundheitsministerium.
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