»Wir haben doch was zu bieten«

Aus Vorpommern ziehen die Jungen weg. Die Politik will diesen Trend stoppen und Ahlbeck am Stettiner Haff soll davon profitieren

  • Simone Schmollack
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.
Für Angela Zeisler ist es ein Sprung ins kalte Wasser. Vor einigen Wochen erst ist die Parteilose zur Bürgermeisterin von Ahlbeck gewählt worden. Sie hatte nicht mal Zeit, ihren Schreibtisch richtig einzuräumen, da standen schon die Politik und die Presse vor der Tür. Bis vor kurzem hatte sich niemand für das kleine Dorf nahe des Stettiner Haffs in Vorpommern interessiert. Und nun das: Ahlbeck ist Teil eines Modellvorhabens geworden. Auf höchster Ebene und unter ständiger Beobachtung. Wolfgang Tiefensee (SPD), Bundesverkehrsminister und zuständig für den Osten, hat das entschieden.
Der Grund sind die Probleme, die Angela Zeisler zu meistern hat. Das Dorf hat 1,8 Millionen Euro Schulden, jedes Jahr kommen 100.000 Euro hinzu. Die Ruine der alten Mühle direkt hinterm zentralen Dorfplatz droht einzustürzen. Aber die größten Sorge bereiten ihr die jungen Menschen, die der Reihe nach weggehen.
Und nicht nur aus Ahlbeck. Über 1,5 Millionen Ostdeutsche haben seit dem Mauerfall ihre Heimat in Richtung Westen verlassen. Das hat das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung kürzlich mit seiner Studie »Not am Mann« öffentlich gemacht. An manchen Orten ist die Abwanderung größer als in den europäischen Polarregionen, beklagt Institutsleiter Reiner Klingholz.
Diesen Trend will Tiefensee jetzt stoppen. Zwei ländliche Regionen werden zwei Jahre lang mit insgesamt vier Millionen Euro gezielt gefördert: das Stettiner Haff und der Südharz/Kyffhäuser. »Wenn Menschen ihre Familien nicht ernähren können, ziehen sie weg«, sagte der Minister bei der Vorstellung des Projekts. Es geht um integrierte Konzepte vom Wohnraum bis zum neuen Job. In einer zweiten Phase denkt Tiefensee an ähnliche Vorhaben in schwachen Westregionen.
Der Landkreis Uecker-Randow, zu dem Ahlbeck gehört, hat seit 1990 ein Viertel seiner Bevölkerung verloren. Eggesin, die Kreisstadt und bekannt als einstiger Standort der Nationalen Volksarmee, ist von 9500 Einwohnern auf 5000 geschrumpft. Ahlbecks Nachbargemeinde Hintersee ist halbiert worden. Ahlbeck selbst zählte nach der Wende noch 900 Frauen, Männer und Kinder, heute sind es 775.

Eine andere Form der Unterschicht
Klick, klack, zack. Angela Zeisler tippt Zahlen in einen Taschenrechner. Die 44-Jährige sitzt im Garten einer Kneipe und will wissen, wie alt Ahlbeck ist. Neben ihr sitzt Gudrun Bader. Die Staatswissenschaftler war in der DDR mal Bürgermeisterin von Ahlbeck. Jetzt erklärt sie Angela Zeisler, wie sie am besten Reden hält, damit die bei den Leuten ankommen. Die Seiten fliegen hin und her. »Ich hab's«, sagt Angela Zeisler, »unser Altersdurchschnitt beträgt 52.« So alt? Hm, ja, offensichtlich. 317 Ahlbecker sind über 60 und älter, 42 sind unter 25, es gibt mehr Männer als Frauen.
Das Problem ist die Arbeit, sagt Angela Zeisler: »Es gibt hier keine.« Nicht im Dorf, nicht im Umland. Also gehen die Jungen, das kann sie sogar verstehen. Auch ihre Tochter wird Ahlbeck vermutlich bald den Rücken kehren. Die ist 19 und wird in Pasewalk, der nächstgrößten Stadt, Krankenschwester. Wenn die Klinik sie nicht übernimmt, ist sie weg. Zurück bleiben jene, die keine Arbeit mehr brauchen, und solche, die keine mehr bekommen: die Alten und die Langzeitarbeitslosen. Die Überflüssigen, wie sie Andreas Willisch nennt. Er ist Soziologe und Chef des Thünen-Instituts für Regionalentwicklung in Bollewick in Mecklenburg-Vorpommern und untersucht seit Jahren die Probleme auf dem ostdeutschen Land. Er sagt: »Es ist eine andere Form der Unterschicht entstanden.« Die Gesellschaft braucht die Übriggebliebenen nicht, um zu überleben und sich selbst zu reproduzieren.
Das will in Ahlbeck keiner hören. Angela Zeisler und Gudrun Bader kämpfen für den Ruf des Dorfes. Gudrun Bader, 55, zeigt auf den Sportplatz und den Festplatz daneben mit Tanzfläche und Grillstelle: »Wir haben doch was zu bieten.« Angela Zeisler sagt: »So schlimm ist das gar nicht.« Und widerspricht sich im nächsten Moment selbst: »Das Dorf bietet keine Zukunft.« Auch die Töchter von Gudrun Bader sind schon lange nicht mehr hier. Die eine ist Ärztin in Kassel, die andere studiert in Göttingen.
Drei Jungen und ein Mädchen schlendern über die Dorfstraße. »Alles Kacke hie«", sagt Desiree Kölbel. Sie hat gerade die 8. Klasse beendet und ist frustriert. »Nur weg« will sie. Die 14-Jährige möchte Kindergärtnerin werden. »Es gibt Möglichkeiten in der Region«, versucht Gudrun Bader zu locken. Das Mädchen zuckt gelangweilt mit den Schultern. Später kommt Claudia Eulitz, nach den Ferien in der 11. Klasse auf dem Gymnasium. »Der Strand«, sagt sie, »ist das einzige Positive hier.« Nach dem Abi will sie als Au pair nach Amerika.
Zwei Bäcker, ein Laden, zwei Kneipen, eine Praxis - der Arzt ist 67 - und acht kleine Handwerksbetriebe; so sieht Ahlbecks Infrastruktur aus. Heute. Aber was passiert in den nächsten Jahren? Klaus Nitschke, Ofenbauer und zwischendurch auch mal Bürgermeister, hatte drei Angestellte. »Jetzt arbeiten die in Holland«, sagt der 63-Jährige. »Wahrscheinlich bin ich bald pleite.« Egon Pfützenreuter ist es im Grunde schon. »1143 Euro Verdienst im gesamten letzten Jahr«, sagt der Inhaber der »Alten Schmiede«. Er schiebt den beiden einzigen Gästen Bier über den Tresen und schenkt sich selbst einen Klaren ein. Es ist vormittags um elf.
Angela Zeisler klappt ihre Mappe zu. Sie muss los, ins Büro. Sie hat einen Ingenieurbetrieb mit zweieinhalb Angestellten. Aber nicht in Ahlbeck, sondern in Torgelow, einer Kreisstadt, 30 Kilometer entfernt. Säße sie in Ahlbeck, hätte sie keinen einzigen Auftrag. »Momentan läuft es«, sagt sie. Es ist ja nicht so, dass auf dem Lande nicht gebaut würde. Die Landflucht hat auch Vorteile. Nicht für die Dörfler, nein, wohl aber für eine wachsende Zahl von Städtern. Ein Trend, der seit einigen Jahren anhält: Gut verdienende Akademiker und Freiberufler wie Journalisten, Filmemacher, Künstler und Fotografen kaufen Bauernhöfe und schaffen sich Ferien- und Wochenenddomizile. Einige wenige ziehen nach Jahren ganz in die Provinz.

Gut für die Schattenwirtschaft
Gudrun Bader dreht eine Runde durchs Dorf und bleibt vor einem aufwändig sanierten Bauernhaus stehen. Eindrucksvoller Giebel, große Fenster, der Vorgarten dicht bepflanzt. Hier wohnt ein Regierungsbeamter mit Familie. Für seinen Job fährt der Mann täglich viele Kilometer. »Selektiver Zuzug« heißt dieses Phänomen bei Andreas Willisch. Im Ortsteil Gegensee hat der Berliner Gerhard Mühlberg ein Haus und etliche Hektar Land und Wald gekauft. Heute leitet er den Shanty-Chor von Ahlbeck.
Auf dem Dorfplatz lässt Gudrun Bader ihren Blick schweifen, als wolle sie »ihr« Terrain abstecken: »Früher kannte ich jeden hier, auch aus den Nachbargemeinden. Heute nicht mehr.« Es ist bitter, und das weiß Gudrun Bader: Die Neuen brauchen die Alten nicht. Nicht zum Leben, nicht einmal zum Reden. Nur hin und wieder mal, um da eine Mauer hochzuziehen oder hier eine Heizung einzubauen. Illegal meistens. Das ist gut für die Schattenwirtschaft.
Die soziale Struktur mischt sich nicht neu. Die Städter verändern lediglich äußerlich die Provinz, wegen der importierten Toscana-Ästhetik in Architektur und Lebensstil. »Nirgendwo schotten sich die Milieus so voneinander ab wie auf dem Land«, sagt Soziologe Willisch. Das war schon immer so. Und: »Die Bevölkerung in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands wird sich stark ausdifferenzieren.« In Jung und Alt, gut und schlecht Ausgebildete, Reiche und Arme. Daraus ergibt sich ein weiteres Problem: Hier siedelt sich keine Industrie mehr an, und die wenigen Firmen, die noch da sind, beklagen akuten Facharbeitermangel - trotz der Massenarbeitslosigkeit.
Selbst die zahlreich entstandenen Bio-Höfe lassen sich nicht einbinden, obwohl sie mit einer Regionalstruktur als Standortvorteil werben. Das Bio-Gut Borken, einer der größten regionalen Öko-Anbieter, braucht gar keine Käufer aus der Gegend. Es liefert nach Berlin, Potsdam, Hamburg, Rostock. Ein Kilo Borkener Rindfleisch kostet rund 20 Euro. Gudrun Bader hebt nur ...

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