Extremismus des Elends

Darstellungen von Armut in populären Medien. Von Ulrike Wagener

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 3 Min.

Wie Unterschichten nicht dargestellt werden sollten - darum ging es bei einer Debatte auf einem SPD-Parteitag im Jahr 1896, deren Analyse von Rebekka Habermas auch zu aktuellen Fragen einiges Erhellendes beizutragen hat. Sie arbeitet heraus, dass es den Anwesenden dabei keineswegs darum ging, zu kritisieren, dass die Unterschichten - als deren Anwalt sie sich sahen - zumeist im Kontext von Sexualität/Prostitution, Schmutz und Alkohol dargestellt wurden. Das setzten sie wohl als gegeben voraus, und so war es auch in wissenschaftlichen Publikationen der Zeit, etwa bei Friedrich Engels. Grund des Anstoßes war, dass diese Figuren in der zeitgenössischen Literatur als nahe Identifikationsfiguren, ja Vertraute taugten. Es schien den Anwesenden, als sei man selbst »auf dem Klosett fotografiert worden«.

In den wissenschaftlichen Abhandlungen, in denen Unterschichten mit den Attributen Schmutz, Sex, Alkohol dargestellt wurden, werde indessen die soziale Realität der Betroffenen durch eine Form des »Otherings« verklärt, kritisiert Habermas. Herausgelöst aus ihren jeweiligen sozialen Bezügen und ohne Kontext, der das Verhalten der Untersuchungsobjekte erkläre, bleibe nur eine essenzialistische Vorstellung des Moralisch-Sittlichen übrig. Dies mache, so Habermas’ These, diese wissenschaftlichen Untersuchungen erträglicher.

Zwar ist es kaum vorstellbar, dass ein heutiger SPD-Parteitag sich mit der Darstellung von Armut im Roman befasst. Der Blick auf Unterschichten in der öffentlichen Darstellung schwankt jedoch immer noch zwischen Abscheu und Faszination. Einem wichtigen Schauplatz der medial vermittelten »nostalgie de merde« (Stephen Greenblatt) widmet sich ein aktuelles Arbeitspapier der Otto-Brenner-Stiftung von Bernd Gäbler mit dem Titel »Armutszeugnis. Wie das Fernsehen die Unterschichten vorführt«. Und kritisiert dabei die mediale Fehldarstellung von Armut, die auch den gesellschaftlichen Umgang damit prägt. Ähnlich wie in den frühen ethnologischen Texten über die Unterschichten werden auch hier zum Klischee erstarrte Figuren erschaffen, die dem Publikum jedoch als repräsentativ vorgeführt werden. Gäbler hat stundenlang sogenannte Sozialreportagen der Privatsender gesichtet und kommt zu dem Schluss, dass diese zumeist mit einem »Extremismus des Elends« spielten. Neben Schmutz, Alkohol und Sex zählt er Krankheiten als besonders beliebtes Sujet der Macher*innen auf.

Es wird zwar suggeriert, man sei »ganz nah dran« an den porträtierten Menschen, doch Hintergründe, Motivation und Kontext ihrer Handlungen bleibt oft im Dunkeln. Auch hier scheint es leichter, sich durch die Unterteilung der Gezeigten in »gut« und »böse« von dem gesellschaftlichen Problem der Armut zu distanzieren. Doch Armut ist, so der Soziologe Heinz Bude, nicht nur eine Frage des Materiellen, sondern auch nach dem »zugestandenen oder verweigerten Platz im Gesamtgefüge der Gesellschaft«. Indem im Fernsehen extreme Beispiele unhinterfragt zu den Unterschichten gemacht werden, wird Armut zu etwas, das entweder Mitleid oder Abscheu auslöst, nicht aber ein Teil unserer Gesellschaft ist. Denn so wie die dort Dargestellten ist man selbst ganz sicher nicht. Auf diese Weise funktionieren diese Sendungen ganz hervorragend, um auch jene, die selbst unter dem repressiven System von Hartz IV und Niedriglohnsektor zu leiden haben, von seiner Notwendigkeit zu überzeugen.

Das Arbeitspapier zeigt detailliert und in aller Deutlichkeit - ohne die Sendungen gesehen haben zu müssen -, wie Unterschichten nicht dargestellt werden sollten. Und enthüllt eine mediale Lücke: Denn dass sie dargestellt werden sollten, das ist für den Autor mehr als klar. Nur wie, das muss sich noch zeigen.

Das Arbeitspapier findet sich online unter http://kurz-link.de/R5gWo

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