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Das Fahrrad hängt Bus und Bahn ab
Der Berliner Senat scheint strategielos beim Nahverkehr in der Coronakrise.
Der große Gewinner der Coronakrise in Berlin ist das Fahrrad. Vor allem in den Außenbezirken haben die automatischen Radzählstellen in der Hauptstadt mit den Kontaktbeschränkungen einen Sprung nach oben gemacht. Am Bahnhof Spandau wurden wöchentlich rund 9000 statt bisher 7000 Radler gezählt. Am Wilmersdorfer Breitenbachplatz stiegen die Werte sogar um über ein Drittel. In traditionellen Radhochburgen wie am Bahnhof Pankow blieben sie konstant auf hohem Niveau, an der Jannowitzbrücke in Mitte gingen sie sogar um ein gutes Drittel zurück. Das dürfte unter anderem der hohen Zahl von Büroarbeitsplätzen im Berliner Zentrum geschuldet sein – viele Beschäftigte arbeiten derzeit von zu Hause aus. Und für Supermarktbesuche fährt man in der Regel nicht durch die halbe Stadt.
Nägel mit Köpfen macht der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Bereits über acht Kilometer temporäre Radstreifen wurden auf Hauptstraßen ausgewiesen – zulasten von Autospuren. Weitere 4,5 Kilometer sollen nächste Woche folgen, so auf Kottbusser Damm und Straße. Begründet wird die Ausweisung damit, dass der aus Infektionsschutzgründen geforderte Abstand von 1,50 Metern zwischen Radlern und/oder Fußgängern anders nicht gewährleistet werden könne. Der Bezirk macht deutlich, dass möglichst viel von dieser Infrastruktur dauerhaft erhalten werden soll. Erst wenn absehbar für ein halbes Jahr das Gebot der physischen Distanzierung aufgehoben wird, müsse darüber entschieden werden, heißt es in einem »nd« vorliegenden Rundschreiben. Hervorgehoben werden dort die Vorteile der Veränderlichkeit der provisorisch mit gelben Baustellenmarkierungen und Warnbaken abgeteilten Fahrradspuren. Sollten sich in der Praxis Probleme zeigen, könne für die bauliche Umsetzung nachgesteuert werden. Das spare Planungszeit und -kosten. Mehrere Bezirke haben angekündigt, nachziehen zu wollen.
»Man sieht, dass die Politik von Rot-Rot-Grün Früchte trägt«, freut sich Kristian Ronneburg, Verkehrsexperte der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, über diese positive Auswirkung der Coronakrise. Doch es wird sich auch geziert. So will die zuständige Marzahn-Hellersdorfer Stadträtin Nadja Zivkovic (CDU) erst mit dem bezirklichen »Fahrrat« sprechen und erst mal sehen, wie es mit den Distanzierungsregeln weitergehe, ließ sie den »Tagesspiegel« wissen.
Weniger Autoverkehr, noch weniger Bus- und Bahnfahrer
Der Autoverkehr auf den Magistralen der Stadt ist deutlich zurückgegangen. Um ein Fünftel bis ein Drittel im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, wie Zahlen der Verkehrsinformationszentrale Berlin für die letzte Märzwoche belegen. Neuere Angaben waren auf Anfrage nicht verfügbar. Staus gibt es praktisch gar nicht mehr in der Stadt. Und doch ist der relative Anteil des Autos am Verkehr, der sogenannte Modal Split, sogar gestiegen. Denn bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) sind die Passagierzahlen um bis zu drei Viertel eingebrochen. Auch weltweit gibt es solche dramatischen Rückgänge bei den Ticket-Einnahmen.
Die Reaktion der Berliner Senatsverkehrsverwaltung kann man nur mit sehr viel gutem Willen als gelassen bezeichnen. »Die längerfristigen Auswirkungen auf die Verkehrsentwicklung und gegebenenfalls den Modal Split lassen sich derzeit noch nicht absehen. Dies hängt von der weiteren Entwicklung ab«, heißt es auf eine Anfrage von »nd«.
Der Linke-Verkehrspolitiker Kristian Ronneburg sieht die Lage deutlich dramatischer. »Die BVG muss alles dafür tun, damit der Öffentliche Personennahverkehr nicht als Virenschleuder dasteht.«, sagt er. »Die Angst vor Ansteckung sowie die fehlende Möglichkeit, Sicherheitsabstände einhalten zu können, werden sicherlich viele zunächst zögern lassen, auf altbewährte Mobilitätsangebote zurückzugreifen«, erklärt sein SPD-Kollege Tino Schopf.
Angesichts der gegebenen Ressourcenausstattung als kaum vermeidbar sieht Friedemann Brockmeyer vom Beratungsinstitut Civity die »aus Sicht der Infektionsprävention kontraproduktiven« und oft kritisierten Taktausdünngen an. »Die Verkehrsbetriebe hatten hohe Krankenstände von 15 Prozent und mehr, dazu fehlt schon länger Personal, die Beschäftigten schieben viele Überstunden vor sich her«, sagt er zu »nd«. »Wir werden relativ schnell wieder relativ volle Züge erleben. Allerdings werden die Fahrgastzahlen noch lange niedriger liegen als vor der Coronakrise«, sagt er. So rechne er nicht damit, dass die Universitäten im Sommersemester wieder auf Präsenzbetrieb umstellen werden. Zwei bis fünf Jahre könnte der Fahrgastschwund anhalten, verbunden mit bundesweiten Einnahmeausfällen von kulminiert fünf bis zehn Milliarden Euro.
Ein allgemeines Problem werde das neue Hygienegefühl sein, dass die Betreiber adressieren werden müssen. »Gerade die Risikogruppen sind besonders abhängig vom ÖPNV und stellen keine unwesentliche Kundengruppe dar«, so Brockmeyer. In dieser Hinsicht scheint die Öffentlichkeitsarbeit der BVG eher kontraproduktiv. Da erklärt deren Sprecherin Petra Nelken angesichts von Beschwerden über volle U-Bahnen, dass die Leute »ja nicht Kinn an Kinn« stünden. Oder, dass es nicht zielführend sei, warme Luft durch die Gegend zu fahren.
»Die Sauberkeit hat derzeit bei keinem einzigen Verkehrsbetrieb in Deutschland den gleichen Stellenwert wie zum Beispiel die Sicherheit des Betriebs, welche bislang absolut begründet war«, erklärt Brockmeyer. »Es wird sehr schnell in die Steigerung des subjektiven Hygienegefühls investiert werden müssen. Zum Beispiel durch die Bereitstellung von Desinfektionsmitteln an den Stationen oder durch mobile Reinigungsteams, die für die Fahrgäste sichtbar arbeiten«, so der Experte.
»In Berlin könnte man bei S-Bahn und U-Bahn bestimmte Zugteile für Maskenträger reservieren, auch Straßenbahnwagen könnte man in zwei Bereiche teilen. Beim Bus ist das nicht so einfach möglich«, nennt Brockmeyer weitere mögliche Maßnahmen. Tino Schopf geht da mit. »So lange es keine Maskenpflicht wird, die dann einen Teil der Fahrgäste ausschließen würde, kann ich mir das gut vorstellen«, sagt Ronneburg.
Die Durchsetzung der Regeln sei natürlich ein Problem, räumt Brockmeyer ein. »Aber wenn das Ziel der Bundesregierung ernst gemeint ist, die Nutzerzahlen im ÖPNV zu verdoppeln, dann braucht man sowieso viel mehr Personal, auch an den Stationen, als derzeit in Deutschland üblich. Man sieht das zum Beispiel in der Londoner U-Bahn, wo im Berufsverkehr viele Beschäftigte für die Lenkung der Fahrgastströme zuständig sind.«
Abonnenten müssen gehalten werden
Wichtig für die Verkehrsbetriebe ist es in dieser Situation, die Stammkunden zu halten, also Kündigungen von Abos zu vermeiden. Civity schlägt einen Erlass der monatlichen Zahlungen für den Pandemiezeitraum vor. »Man muss gute Lösungen für die Abokunden finden«, sagt auch Ronneburg. Sehr bald müsse zusammen mit Brandenburg eine AG Tarife beim Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) einberufen werden, fordert er. »Wir konnten uns schon vor Corona keine weiteren Fahrpreiserhöhungen leisten. Wie astronomisch sollten die sein, wenn man Hunderte Millionen Euro an Verlusten kompensieren wollte?«, fragt der Linke-Politiker.
Der VBB signalisiert derzeit allerdings anderes. Er verweist auf Anfrage des Fahrgastverbands Pro Bahn lapidar darauf, dass »die gültigen Tarifbestimmungen und Beförderungsbedingungen weiterhin anzuwenden sind«. Wer also nicht wegen Krankheit oder Corona-Quarantäne zu Hause bleiben muss, zahlt weiter. Für die Kundenbindung könnte das verheerend werden.
»Durch die Corona-Maßnahmen wird unser ÖPNV teurer werden, aber derzeit ist er auch sehr günstig«, sagt Brockmeyer. Der komplette Betrieb von Bussen und Bahnen und des Eisenbahn-Regionalverkehrs hat 2019 in Deutschland gerade mal etwas mehr als 26 Milliarden Euro gekostet. »Das ist ein Witz, wenn man sich vor Augen hält, dass damit ein Fünftel des kompletten Personenverkehrs abgewickelt wurde«, so der Experte.
Für Kristian Ronneburg ist klar, dass der Bund finanziell einspringen muss. »Kein Land kann das alleine leisten«, ist er überzeugt. Doch die Länder müssen auch die Stimme erheben. »Ich wünsche mir ein starkes Signal beider Landesregierungen, also der Regierungschefs Michael Müller und Dietmar Woidke (beide SPD), gemeinsam mit dem Zepter einer modernen Verkehrspolitik voranzuschreiten«, wünscht sich Tino Schopf.
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