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Wie Corona den Osten herausfordert
In Sachsen kennt man Umbrüche. Der aktuelle erinnert ein wenig an 1989
Die Ostdeutschen haben im Lauf der Geschichte ein zwiespältiges Verhältnis zum Gehorsam entwickelt. Waren sie dem autoritären Staatsgeist der DDR ergeben, wurden sie jahrzehntelang von alten Männern zu Fügsamkeit und Denunziation erzogen, entwickelten sie gerade zur Wendezeit einen widerständigen Charakter, der das ohnehin brüchige Konstrukt mit erstaunlich friedlichen Mitteln zum Einsturz brachte. Auch in der Nachwendezeit zeigten sich die Ostdeutschen immer wieder als Widerständler. Zu denken ist an die Streiks gegen Werksschließungen im Zuge der Treuhand-Abwicklungen und an die Sozialproteste gegen die Einführung der Agenda 2010, die gerade im Osten viel Zulauf erfuhren.
Dieser Tage wird der Gehorsam der Ostdeutschen wieder auf eine harte Probe gestellt. Es gilt, auf Momente der Freiheit, die man vor Kurzem noch für selbstverständlich hielt, für einige Zeit zu verzichten. Ganz besonders in Sachsen, denn hier gelten bis jetzt einige Regeln, die noch über die des Bundes hinausgehen. Was macht das mit einer Bevölkerung, deren Geschichte eine von Umbrüchen ist, die extremen Zwang und extreme Freiheit in dichter zeitlicher Abfolge erlebte? Und die nun möglicherweise vor dem nächsten Umbruch steht - niemand weiß, wie Wirtschaft und Gesellschaft nach Corona aussehen werden.
Ostersonntag in Leipzig: Die Stadt hat sich zu einem Spaziergang entschlossen. Vom Eise befreit sind Strom und Bäche längst, denn das Klima wandelt sich auch in Zeiten, in denen nicht darüber geredet wird. Auch die Menschen wirken aufgewärmt, zugleich sehnsüchtig nach Orten, an denen sie Mensch sein dürfen. In den Leipziger Parkanlagen, wo Ostdeutschland jünger und bevölkerter und akademischer ist als auf dem Land, trifft man eine junge Frau, die sich »zuletzt einsam« fühlte, und einen Familienvater, der daran zweifelt, dass die Strenge der Maßnahmen angemessen sei. Man trifft Menschen, die das Leben im Sinne Goethes so fröhlich und österlich wie möglich gestalten wollen, zufrieden jauchzend, bei der Buchlektüre, beim Biertrinken und Ballspiel.
Man trifft aber auch Menschen, die dem Chor der Jauchzenden fernbleiben, auf Distanz gehen. Ein rüstiges Rentnerpaar, er 91, sie 88. »Willst du?«, fragt er sie, dann redet er selbst: »Den Krieg haben wir erlebt, die Nachkriegszeit, aber so etwas noch nie.« Die Maßnahmen findet er richtig, auch die Durchsagen der Polizei, die hier und da ihre Runden dreht und zur Ordnung ruft. Man trifft auch jüngere Menschen, die das Regelwerk »gar nicht so dramatisch« finden, die Vergleiche ziehen zu anderen Staaten, in denen Corona stärker wütet, das Gesundheitssystem schlechter präpariert ist und die Regeln härter sind. Auf der Karl-Liebknecht-Straße, wo sich Restaurant an Café reiht, werden Speisen und Getränke an der frischen Luft gereicht. Ein paar Spaziergänger greifen zu, es sind willkommene Angebote an diesem herrlichen Frühlingstag, der Hoffnung macht auf baldige Besserung. Sorgen hat man hier trotzdem. Beim Italiener erzählen sie, dass pro Tag nur noch zehn bis 15 Gäste kommen: »Die Leute haben Angst.«
Diese Mischung aus Angst und Hoffnung, sie erinnert ein wenig an 1989, als ebendieses Gefühl auf den ostdeutschen Straßen herrschte, nur dass die Konstellation der Protagonisten sich verschoben hat. Neben Staat und Gesellschaft ist ein unsichtbares Drittes getreten, von dessen Wirkung letztlich alle abhängig sind. Ein Bußgeldbescheid, da sind sich die Menschen einig, erscheint in dieser Hinsicht als geradezu lächerlich gegen ein fehlendes Beatmungsgerät.
Und dennoch: Der staatliche Eingriff in die hart erkämpften Bürgerrechte lässt viele Ostdeutsche nicht unberührt. »Gerade in Zeiten wie diesen sollten wir uns über die Bedeutung der Grundrechte bewusst sein und diese nicht einfach aushändigen«, sagt etwa die Gruppe »Aufbruch Ost«: »Beschränkung der Grundrechte nur, wenn sie verhältnismäßig und nicht willkürlich stattfinden. Und nach Corona wieder rückgängig gemacht werden. Und zwar zu 100 Prozent.« Die Bürgerrechtlerin Gesine Oltmanns, die am 4. September 1989 vor der Leipziger Nikolaikirche das berühmte Transparent mit der Forderung »Für ein offenes Land mit freien Menschen« in die Höhe hielt, warnt vor der Rückkehr zu längst überwundenen Ordnungsprinzipien: »Es darf auch in der Coronakrise kein neuer Polizeistaat entstehen.« Oltmanns wünscht sich »neben der sozialen auch eine politische Solidarität«. Diese könne »viel bewegen, wie wir 1989 in unserem Land erfahren konnten«.
Auch sucht man neue Formen des politischen Protests. Eine unangemeldete Demonstration wie in Berlin gab es im ansonsten bewegten Leipzig zwar nicht, doch immer mehr Häuser sind mit Bannern geschmückt, auf denen Solidarität mit all jenen gefordert wird, die das Auge des Osterspaziergängers nur bedingt wahrzunehmen vermag: Kranke und Krankenpfleger, Obdachlose und Geflüchtete, Alte und Einsame.
Doch ist da eben auch noch dieses Pflichtbewusste, dieses Disziplinierte, das man den Ostdeutschen nachsagt, ganz besonders den Sachsen. Auch diesmal wollten sie ihre Hausaufgaben offenbar besonders gründlich und vor allem schnell erledigen. Noch bevor die Bundesregierung am 22. März ihre Leitlinien zur Beschränkung sozialer Kontakte vorstellte, war die sächsische Landeshauptstadt Dresden mit einer bedingten Ausgangssperre auf kommunaler Ebene vorgeprescht. Dann ging alles ganz flott, wie der grüne Innenexperte Valentin Lippmann dem »nd« berichtet: »Andere Kommunen scharrten offenbar mit den Füßen und wollten eine landeseinheitliche Regelung. Sozial- und Innenministerium reagierten mit einer Allgemeinverfügung, zu einem Zeitpunkt, als parallel noch die Absprachen mit der Bundesebene liefen.« Dieser Weg, so Lippmann, »war und ist aus meiner Sicht erklärungsbedürftig. Ich hätte mir da mehr Geduld gewünscht.«
Aber das große Vorbild der sächsischen Regierung ist möglicherweise gar nicht der Bund, sondern Bayern, wo Ministerpräsident Markus Söder (CSU) stets voranschreitet, wenn es Härte und Strenge zu zeigen gilt. So sind die sächsischen Maßnahmen qualitativ am ehesten mit den bayerischen vergleichbar - und das, obwohl es in Sachsen deutlich weniger Coronafälle gibt. Das Gesundheitsministerium unter Leitung von Petra Köpping (SPD) begründet die Strenge der Maßnahmen auf »nd«-Anfrage mit dem »großen Anteil älterer Bürgerinnen und Bürger, die zur Risikogruppe zu zählen sind. Diese gilt es zu schützen.« Doch stoßen die Regeln bei den Regierungsparteien nicht auf einhellige Zustimmung: »Diese Ausgangsbeschränkungen tun mir als liberalem Grünen natürlich sehr weh. Sie sind nur schwer hinzunehmen und müssen definitiv so schnell wie möglich ein Ende haben«, sagt Valentin Lippmann.
Es ist schwierig zu beurteilen, ob die aktuelle Krisensituation im Osten stärker durch Autoritätshörigkeit oder durch Freiheitswillen geprägt ist. Fakt ist: Beide existieren nebenher, bekämpfen sich, sind aber auch ineinander verschlungen, weil das Ziel das gleiche ist: die Rettung der Gesellschaft. Um dieses Ziel zu erreichen, wird solidarisch gehandelt und entsprechendes Handeln auch eingefordert. Was unter Solidarität in Zeiten von Corona zu verstehen ist, definieren die Bürger aber unterschiedlich: Manch einer geht lieber einen Schritt zurück und fordert einen solchen Rückzug auch von seinen Mitmenschen - individuelle Distanzierung um des Kollektivs willen. Manch andere schreiten gerade jetzt voran, zeigen sich aktiv und tatkräftig: Politiker beim Verordnen, Bürger beim Helfen, Aktivisten beim Demonstrieren.
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