Ein Gangster der alten Schule

Polizistin Sara Cross gerät mit ihrem schießfreudigen Kollegen aneinander

  • Lesedauer: 10 Min.

Ein paar verlorene Schneeflocken trieben durch die Straßen - es war gerade erst Ende Oktober -, als Morgan seinen klapprigen Chevy Monte Carlo in die Lyons Avenue dirigierte. Die ausgebrannten Brownstone-Häuser gehörten hier ebenso zum Stadtbild wie die verlassenen Autowracks, die bis aufs Skelett ausgenommen worden waren. Als er an einer Baulücke vorbeikam, sah er zwei Männer, die an dem Feuer standen, das sie sich in einer der alten, 200 Liter fassenden Öltonnen gemacht hatten. Sie schauten ihm aufmerksam nach, als er an ihnen vorbeifuhr. An der nächsten Straßenecke stand ein provisorisches Altärchen, das vor einem Telefonmast aufgebaut worden war. Er sah ein paar flackernde Kerzen, einen Teddybären sowie ein weißes T-Shirt, das an den Holzmast genagelt war. Irgendetwas war darauf geschrieben, doch er konnte es aus der Entfernung nicht entziffern. Auf der Kassette lief »I Miss You« von Harold Melvin and the Blue Notes - die lange Version -, doch er hielt es instinktiv für angebracht, die Lautstärke nun zu reduzieren. Er bog langsam in eine Seitenstraße ein und schaute sich die Häuser genauer an. Das gesuchte Brownstone - die einst großzügigen Fenster mit billigem Sperrholz vernagelt - war schräg vor ihm auf der linken Seite. Er rollte mit seinem ratternden Auspuff langsam vorbei, schaute sich die desolate Fassade an und registrierte die visuellen Duftmarken, die rivalisierende Gangs auf dem Sperrholz hinterlassen hatten. Hoffentlich hatten sie nicht auch noch einen Hund im Haus. Er fuhr einen Block weiter, drehte und parkte vor einer leeren Schaufensterfront. Als er den Motor abstellte, produzierten die acht Zylinder noch ein paar Fehlzündungen, gaben dann aber Ruhe. Seine Augen noch immer aufs Haus gerichtet, griff er in seinen Ledermantel und holte eine Flasche Vicodin heraus. Er spürte noch immer die Schmerzen auf der rechten Seite, direkt unter den Rippen. Sie meldeten sich immer zurück, wenn er Stress hatte. Er schüttelte eine Pille heraus, brach sie in zwei Teile, legte eine Hälfte auf die Zunge und schluckte sie runter. Als er sein Gesicht zufällig im Rückspiegel sah, zuckte er zusammen. Sein Gesicht war schmaler geworden und das Haar so grau, dass man es nur noch als aschgrau bezeichnen konnte.

Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen. Er steckte die andere Hälfte der Pille wieder in die Flasche, die Flasche in den Mantel und öffnete die Tür. Als er ausstieg, meldete sich umgehend die Arthritis in seinen Hüften zu Wort. Wenn es so frühzeitig kalt wurde, durfte man sich auf einen brutalen Winter einstellen. Er schloss seinen Wagen ab, schaute nach links und rechts, sah aber keine Menschenseele. Alle Häuser hier waren von der Stadtverwaltung als abbruchreif klassifiziert worden, doch die mehrfach versprochene Sanierung war immer nur ein Versprechen geblieben. Die einzigen Leute, die hier lebten, waren Hausbesetzer - junge Drogensüchtige und alte Schnapsleichen, die sich bei Einbruch des Winters ein warmes Plätzchen suchten. Es war noch früh an diesem kaltgrauen Nachmittag, sein Atem fror bereits in der Luft. Seinen Baumwollhandschuhen zum Trotz hatte er kalte Hände. Als er auf das Haus zuging, knirschten zerborstene Flaschen und Crack-Phiolen unter seinen Stiefeln. In diesem Teil der Stadt waren die Straßen mit Scherben übersät. Er hielt vor dem Haus an. Es hatte drei Stockwerke und war einmal der Stolz eines wohlhabenden weißen Mannes gewesen. Der verwilderte Vorgarten war winzig, die Treppe hinauf zur vernagelten Tür zerfallen. Ein elektrisches Verlängerungskabel führte von einem Fenster im ersten Stock zum Nachbarhaus. Er holte sein Handy heraus und öffnete das Kurzwahl-Display. Rohan antwortete nach dem ersten Klingeln. »Yo.«

»Morgan hier. Wie komm ich denn rein in dieses gottverdammte Haus?«

»Du bist früh dran, Mann. An der Seite des Hauses gibt’s eine Tür.«

Morgan ging ums Haus und passierte einen kleinen Garten. Eine Vogeltränke, in ihre Einzelteile zerfallen, lag achtlos im Unkraut. Er sah die Tür, die in diesem Moment auch prompt von innen geöffnet wurde. Im Ein gang stand ein pummeliger Teenager - vierzehn, fünfzehn Jahre alt - in einer roten North Face-Jacke und Schlabberjeans. Unter der Jacke trug er ein schwarzes T-Shirt mit den roten Worten STOP Snitching. Morgan schaute an ihm vorbei ins Innere des Hauses. »Habt ihr einen Hund hier?«

»Einen was?«

»Hund. Einen Pitbull oder sowas?«

»Nein Mann, hier gibt’s keine Hunde.«

Morgan ging in eine große, kahle Küche, in der alle Anschlüsse aus der Wand gerissen waren. Die Decke, mit Wasserflecken übersät, hing bereits durch und machte den Eindruck, als könne sie jeden Moment runterknallen. Der Junge schloss die Tür hinter ihm wieder ab. Zwei Sicherungsbolzen und ein massiver Riegelverschluss, der im Fußboden verankert war. Alles nagelneu.

»Wart mal«, sagte der Junge. Morgan drehte sich um und hob die Arme. Der Junge tastete ihn unter dem Mantel sorgfältig ab, ging dann auf die Knie und untersuchte die Hosenbeine. Zum Abschluss glitt er mit beiden Händen über den Mantel, fühlte die Flasche mit Pillen und holte sie heraus. »Was sind das denn für Dinger?«

»Das sind meine«, sagte Morgan. Der Junge schüttelte die Flasche und steckte sie wieder in Morgans Tasche. Er nickte zum Flur. »Alles klar.«

Durch den Flur kam Morgan zu einer alten Holztreppe, deren Geländer bereits arg lückenhaft geworden war. Diverse Verlängerungskabel - allesamt Profiqualität - schlängelten sich die Stufen hinunter und verschwanden dann hinter der Treppe. Morgan folgte ihnen, bis er in ein Wohnzimmer trat. Rohan saß auf einem alten Sofa in der Mitte des Raums und hantierte mit ein paar Utensilien, die auf einem klapprigen Couchtisch vor ihm lagen. Seine ganze Aufmerksamkeit galt einer Zigarre, die er gerade mit einer Rasierklinge aushöhlte. Ein Plastikbeutel mit Marihuana lag gleich daneben. Eine Stehlampe neben dem Tisch lieferte das einzige Licht. Ein elektrisches Heizöfchen glühte in der Ecke. »Ihr Jungs lebt hier?«, fragte Morgan. »Das ist doch nicht euer Ernst.«

Rohan schaute nicht auf. Mit dem Handrücken wischte er den Tabak vom Tisch und stopfte das Gras in den Blunt. »Nein, Mann, das ist nur der Laden«, sagte er. »Hier machen wir die Geschäfte.« Er war Mitte Zwanzig und trug die identische North Face-Jacke, ein weißes Basketballhemd darunter, schwarze Jeans und Timberlands. Seine langen Haare waren in Braids geflochten. An seinem Hals sah Morgan ein Tattoo mit drei Tatzen. Ein verchromter Revolver lag auf einem Kissen zu seiner Rechten. Der Junge drängte sich an Morgan vorbei und postierte sich neben den Heizkörper, der vor dem alten Kaminsims stand. Er spreizte die Beine und verschränkte die Arme vor der Brust. In seiner Hüfte konnte Morgan den Kolben eines Revolvers sehen.

Rohan feuchtete die aufgeschlitzten Zigarrenblätter mit seiner Zunge an und presste sie zusammen, sah sich sein Kunstwerk an und leckte noch einmal. Er nahm ein Feuerzeug vom Tisch und fuhr mit der Flamme solange an den feuchten Blättern entlang, bis die Kante versiegelt war. »Wie alt bist du denn?«, fragte der Junge. Morgan schaute ihn an. »Was geht dich das an?«

»Frag ja nur.«

»In der guten alten Zeit mischte Morgan ganz vorne mit«, sagte Rohan. »Ein Gangster der alten Schule.« Er schaute zum ersten Mal hoch. »Er war der trouble man, wie er im Buche steht - oder im gleichnamigen Film sogar zu sehen ist.« Er schaute den Jungen an. »Hast du den Film je gesehen, Raj? Mit dem Soundtrack von Marvin Gaye? Wie der Bursche mit seinem Lincoln Continental durch die Gegend rollt und überall die Kacke ans Dampfen bringt?«

»Fehlanzeige.« Raj schüttelte den Kopf.

Rohan zündete den torpedoähnlichen Blunt mit dem Feuerzeug an, sog den Rauch tief ein und reichte den Joint gleich weiter. Raj nahm ihn, inhalierte und reichte ihn umgehend zurück. Der beißende Geruch breitete sich schnell im ganzen Zimmer aus. Rohan blies eine volle Ladung zur Seite aus und hielt den Joint in Morgans Richtung. Morgan schüttelte den Kopf.

»Das ist Mörderstoff«, sagte Rohan, »nicht der Kinderkram, mit dem Mikey-Mike dieser Tage die Menschheit beglückt.«

»Aus welcher Quelle kommt denn der Stoff«, fragte Morgan. Rohan zuckte mit den Schultern und reichte den Joint wieder an Raj. »Wir leben eben in der freien Marktwirtschaft«, sagte Rohan. »Wenn das Produkt nichts taugt oder der Preis nicht stimmt, geht der Kunde halt woanders shoppen. Alle wissen doch, dass Mikeys Stoff nichts mehr taugt, seit die Kolumbianer in den Bau wanderten. Sein Coke ist genauso mies. Und das H auch. Und irgendwann rächt sich so was. Er kratzt nur noch minderwertigen Scheiß zusammen - und alle auf der Straße wissen es.«

»Das war ein Engpass, der bald behoben sein wird.«

»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Beim letzten Mal kam er auch nicht mit Nachschub rüber, wenn ich mich recht erinnere. Ich hab weiß Gott viel von seinem Stoff unters Volk gebracht - und wir haben uns dumm und dusselig verdient. Aber damals war sein Zeug auch noch gut, während heute der Wind aus einer anderen Ecke pfeift.« Raj reichte den Blunt zurück - und Rohan legte ihn zum Abkühlen auf die Tischkante.

»Er weiß genau, dass nicht alles optimal lief in letzter Zeit«, sagte Morgan, »aber er wird die Sache auch wieder ins Lot bringen. Er hat exzellente neue Kontakte - was bedeutet, dass schon bald wieder exzellenter Stoff auf den Tisch kommt.«

»Wenn er das macht, können wir reden. Wenn der Shit gut ist, machen wir wieder Geschäfte. Wenn nicht, dann eben nicht. So laufen die Sachen nun mal.«

»Ihr beiden wart doch wie Pech und Schwefel«, sagte Morgan. »Wenn es sich weiter rumspricht, dass ihr nicht mehr an einem Strang zieht, ist niemandem damit gedient.«

»Willst du mir etwa das Lied von der Loyalität singen? Es geht nur ums Produkt. Es ist schon schwer genug, momentan über die Runden zu kommen. Man will schließlich nicht irgendeinen Scheiß an den Mann bringen, man will den Leuten kein Geld dafür abnehmen - und dann auch noch meinen, dass sie dir die Füße küssen. Meine Leute haben auch einen Ruf zu verteidigen - und ich hab so was wie eine Verantwortung für sie … «

Posy Simmonds

Posy Simmonds, geb. 1945, seit den 1970ern Cartoonistin beim britischen »Guardian«. Autorin mehrerer gesellschaftskritischer Comicbände und Kinderbücher.

Cassandra Darke
96 S., geb., 24,00 €, Reprodukt Verlag

auch auf Deutsch erhältlich:
Tamara Drewe
136 S., kt., 20,00 €

Gemma Bovary
112 S., kt., 20,00 €

Wallace Stroby

Als die junge Polizistin Sara Cross mitten in der Nacht zu einem abgelegenen Highway gerufen wird, erfährt sie, dass ihr Kollege und Ex-Freund Billy einen Mann erschossen hat. Er behauptet, der Mann habe während einer Verkehrskontrolle plötzlich eine Waffe gezogen. Sara will ihm die Notwehr glauben, doch es bleiben Zweifel. Als die Witwe des Toten Druck macht und sich der Berufskiller Morgan an ihre Fersen heftet, gerät Sara immer tiefer in Schwierigkeiten. Um sich und ihren Sohn zu beschützen, muss sie die Wahrheit herausfinden.

Wallace Stroby, geboren 1960, wuchs südlich von New York in Ocean Grove auf. Er studierte Journalismus und Medienwissenschaften und arbeitet als Polizeireporter.Für seine Buch- und Filmkritiken wurde er mehrfach ausgezeichnet. Seit 2003 veröffentlichte Stroby zahlreiche Romane.

Wallace Stroby:
Zum Greifen nah
Pendragon Verlag, 360 S., kt., 18,00 €

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.