Brot und Butter

Die Linke muss sich auf den Verteilungskampf vorbereiten, der nach der Krise droht.

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 8 Min.

Zu den Merkwürdigkeiten der »Corona-Krise« gehört ihr absurder Effekt auf die gesellschaftliche Linke. Gerade »Ältere« - die selbst, soweit man das weiß, ja eher zu den »Risikogruppen« zählen - scheinen zuweilen fast mehr als vom Virus selbst davon erschreckt zu sein, wie schnell, weitreichend und widerstandslos Grundrechte suspendiert werden können und wie stark die jeweiligen Machthaber davon profitieren. Die »Jüngeren« dagegen, die persönlich weniger gefährdet sind, neigen offenbar häufig dazu, der existenziellen Bedrohung durch die Infektionskrankheit alles unterzuordnen und eher noch konsequentere »Maßnahmen« zu fordern.

Während diese idealtypischen Älteren also bei politischem Pessimismus zu »virologischem« Optimismus neigen, ist es bei den Jüngeren umgekehrt. Und eine negative Cui-bono-Frage - wen stört die Situation am meisten, richtig: die Konzerne - trägt zu einer Haltung bei, die linke Gesinnung am Härtegrad des »Lockdowns« misst.

Diese Verdrehung der Positionen hat Geschichte. Die heute älteren Traditionen der Linken - rund um die »Neue Linke« der 1960er und 1970er Jahre - haben als Kristallisationspunkt den Widerstand gegen die Notstandsgesetze von 1968. In der jüngeren Tradition gilt hingegen gerade das Ausrufen von Notständen - von Beschneidungen des politischen Prozesses durch die Exekutive - als Mittel gesellschaftlicher Transformation. Am sichtbarsten wurde dies zuletzt in der Klimafrage. So schließen sich diese Jüngeren zunehmend unkritisch vermeintlichen Maßnahmenchampions à la Markus Söder an, während jene Älteren plötzlich neben den Neoliberalen stehen, denen es freilich weniger um demokratische Rechte geht als um das Wiederanfahren der Profitwirtschaft.

Eine Corona-Dividende wird es nicht geben

Die quantitative Dimension dieses Zerwürfnisses ist bis auf Weiteres schwer zu vermessen. Da die Jüngeren inzwischen die sozialen wie redaktionellen Medien der Linken dominieren, bleibt nämlich unklar, wie verbreitet jene ältere Position zur Politik des Notstands ist. Die qualitative Tragweite hingegen erscheint allmorgendlich auf der »Timeline«: Die Polemiken übertreffen noch das Eskalationsniveau des linken Redens über den Israel/Palästina-Konflikt. Es stehen sich zumal im deutschen Kontext einmal mehr Faschismusvorwürfe gegenüber.

Wäre, was geschieht, nicht real, sondern ein Thrillerroman, dann wäre dieser lähmende Streit der Oppositionskräfte ein zentraler Teil des Plots. Es gibt hier aber auch eine gute Nachricht: Der innerlinke Corona-Zwist scheint leichter auflösbar zu sein als etwa die Position zu jenem Konflikt im Nahen Osten. Man muss dazu freilich den Blick nach vorne richten. Was immer man über das Virus denkt und glauben will: Die Krise ist sehr real. Und am Ende wollen doch alle das Gleiche: dass das Danach nicht das Davor sei, sondern solidarischer. Oder nicht?

Politisch ist es dabei allerdings geboten, vom Pessimismus jener älteren Schule auszugehen. Die Jüngeren scheinen zuweilen zu glauben, die jetzt gelebte »Solidarität« werde sich wie von selbst auszahlen, das Krisenerlebnis per se werde ein zumindest graduelles politisch-soziales Umdenken unvermeidlich machen. Eine solche Corona-Dividende wird es aber nicht geben.

Zwar mag, wie jüngst Ulrike Herrmann in der »Monde Diplomatique« schreibt, die Krise die Theorie des Neoliberalismus widerlegen. Doch politisch heißt das gar nichts. Eher trifft zu, was Ingar Solty jüngst an dieser Stelle äußerte: Die »Rechnung« für die beschlossenen und wohl noch folgenden Fantastilliardenpakete - die alles andere als klassenegalitär sind - wird bereits geschrieben. Wenn schon jetzt eine Rückkehr zur »Schwarzen Null« im Raum steht, wenn - trotz nun zunächst beschlossener Erhöhung - Forderungen nach einer »Rentendämpfung« laut werden, ist klar: Es steht ein scharfer Verteilungskampf bevor.

In alter und neuer Zerstrittenheit sowie mittelfristig des Demonstrationsrechtes beraubt, ist die gesellschaftliche Linke diesbezüglich in einer schwachen Position. Zudem ist die jetzt allerorten gemachte Erfahrung des Zurücksteckens Einzelner im Sinne der Allgemeinheit politisch höchst zweideutig: Sie lässt sich nicht nur in eine solidarische Erzählung übersetzen - sondern auch in das alte neoliberale Mantra vom »Engerschnallen« des »Gürtels« zugunsten eines vermeintlichen Nationalkollektivs.

Wie lässt sich bewirken, dass sich die solidarische und nicht die neoliberale Deutung der Corona-Erfahrung durchsetzt? Wie immer am besten durch Propaganda der Tat. Gefragt ist zunächst eine Verteidigungsstellung, die aber Geländegewinne nicht a priori ausschließt. Es bedarf hierzu einer Konzentration auf wenige Anliegen, deren Möglichkeit und Dringlichkeit auch nicht bereits Bekehrten vermittelbar ist.

Ganz oben steht die akute Finanzierung der Krise. Es muss jetzt, wer immer sich als links versteht, dem SPD-Chef Norbert Walter-Borjans kraftvoll und hörbar den Rücken stärken. Dieser fordert eine wie auch immer geartete Vermögensabgabe - während seine eigenen Parteigranden gerade jüngst einen einschlägigen Goldman-Sachs-Banker zum Staatssekretär erhoben haben. Die Weisheit, man müsse weit mehr als eine Sonderabgabe fordern (wenn nicht gleich die »Negation der Wertvergesellschaftung« oder andere Features aus dem Kritische-Theorie-Kurs), mag richtig sein, bringt aber im anstehenden Ad-hoc-Konflikt nicht weiter.

Zweitens rückt das Virus das Gesundheitssystem in den Blick. Dass hier »der Markt« nicht viel zum Guten regelt, ist dieser Tage alltagsevident, wenn für Atemschutz-Einweglappen je nach Tageszeit drei, vier oder fünf Euro verlangt werden. Dass Kliniken nicht auf Profit ausgerichtet sein sollten, sondern eine Daseinsvorsorge auch in Fällen wie dem gegenwärtigen bieten müssen, ist so vermittelbar wie nie. Die Offensivoption besteht hier in der Abschaffung der privaten Krankenversicherung. Die »Bürgerversicherung« ist ja schon lange Beschlusslage bis in die SPD.

Drittens zeigt Corona die kapitalgedeckte Altersversorgung als biografisches Himmelfahrtskommando. Nie war der Moment so günstig, dieses auch hierzulande vordringende Prinzip zurückzudrehen. Und auch dabei ergibt sich eine offensive Möglichkeit: Umbau des Rentensystems in Richtung wiederum einer Einheitskasse, wodurch eine weit höhere Rentenquote möglich ist und die - politisch gewollte - Notwendigkeit entfällt, private Ergänzungen zu suchen. Und viertens macht die Krise natürlich deutlich, wie schnell und »unverschuldet« man die Wohnung verlieren kann.

Wer das für dünne Bretter hält, steige aus Wolkenkuckucksheim herab: Es wäre bereits ein großer Erfolg, wenn sich allein jener Vorstoß des SPD-Chefs zur akuten Finanzierung durchsetzen und so die sich abzeichnende Austeritätsoffensive zurückschlagen ließe. Wenn - und nur wenn - es gelingt, anhand eines solchen Brot-und-Butter-Programms jene solidarische Deutung der Coronakrise durchzusetzen, kann man über transformatorische Schritte sprechen. Gelingt es nicht, droht ein gewaltiger Rollback.

Ja: Diese Krise kann zu einer Chance gemacht werden. So hautnah wie die nun zur Bürgerpflicht erhobenen Atemmasken führt sie einer Mehrheit täglich vor, dass das Glück der größten Zahl keineswegs von einer »unsichtbaren Hand« aus der Summe der Egoismen geknetet wird. Darin liegt eine Möglichkeit, jenen Impossibilismus zu überwinden, der da sagt, dass es ganz und gar unmöglich sei, diese Welt auch nur ein bisschen solidarischer einzurichten. Nötig ist es allerdings, jene Mehrheit auch wirksam anzusprechen. Obwohl derzeit so vieles noch gestern Undenkbares schon morgen Realität wird, darf der utopische Bogen nicht überspannt werden. Es braucht durchsetzbare, breit vermittelbare Ziele, um aus der Defensive in eine Offensivposition zu kommen.

Die zivilgesellschaftliche, die Bewegungslinke hat das noch nicht verstanden. Es ist ein erwärmendes Zeichen von Humanität, wenn die Kampagne »Leavenoonebehind« auch in diesen Tagen Solidarität mit denen übt, die jetzt in albtraumhaften Flüchtlingslagern sitzen. Bestürzend aber bleibt, dass dies im Moment die mehr oder minder einzige wahrnehmbare Regung jener gesellschaftlichen Linken ist. Während sich die Gegenseite für den Verteilungskampf rüstet, der die Gestalt dieser Gesellschaft über Jahre bestimmten könnte, legt die gesellschaftliche Linke eine rührende Naivität an den Tag.

Es ist jetzt Zeit für Massenpolitik

Gefragt ist jetzt »Massenpolitik«. Also der Versuch, auf allgemeine, große Schalter zu drücken, an die eine Mehrheit angeschlossen ist. Diese Politik des kleinsten Nenners - Abwehr der Austeritätsoffensive - ist nicht alles, ohne sie ist aber alles nichts. Zurückstehen muss einstweilen die politische Logik jenes »Movementismus«, der die vergangenen zwei Jahrzehnte bestimmte. Es ist für den Moment höchst kontraproduktiv, nicht auf das Allgemeine zu zielen, sondern auf das Besondere, die Differenz.

An jener Mehrheit, um deren Köpfe nun gerungen werden muss, wird einem nicht alles gefallen. Doch sind Themen wie etwa Gesundheit und Rente für nationalistische Kampagnen schwierig, weil es um Beitragssysteme geht und nicht um staatsbürgerschaftliche. Der momentane Abstieg der AfD, bislang der erfreulichste Effekt der Krise, wird sich verstetigen, wenn der Fokus auf diesen Für-alle-Themen ruht. Und vielleicht findet sich in dieser gemeinsamen Abwehrschlacht jenes bislang notorisch abwesende Element, das das sprichwörtliche »Mosaik« der emanzipatorischen Bewegungen zu wirksamer Bündelung führt.

Erste und letzte Bedingung einer linken Politik in Zeiten von Corona aber bleibt: Es muss Schluss sein mit jenem Krieg zwischen der alten und neuen Schule. Wer sich fragt, wie man drastischste Maßnahmen mit einer bis auf die Stellen hinterm Komma angegebenen »Todesrate« oder »Reproduktionszahl« begründen kann, obwohl man die Gesamtzahl der Infizierten noch immer nicht näherungsweise kennt, ist noch lange kein »Corona-Leugner« - und das »Liken« des »Heinsberg-Protokolls« auf Facebook macht niemandem zum zynischen »Todesengel«. Und umgekehrt ist nicht gleich »gehirngewaschen«, wer in unklarer Lage eben zu maximaler Vorsicht rät.

Nicht nur, weil man bald um das Danach in angedeuteter Weise gemeinsam zu kämpfen haben wird, empfiehlt es sich, die Luft anzuhalten und bis Hundert zu zählen, bevor man derlei Angst und Frust ins Internet tippt. Sondern auch, weil einem viele dieser Äußerungen einmal schrecklich peinlich werden könnten.

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