Richtungsstreit in Österreich sorgt für mieses Klima

Die politische Praxis der Koalitionsregierung in Wien geht zu Lasten des kleineren Partners. ÖVP kann sich bei einem Bruch gute Wahlchancen ausrechnen

  • Stefan Schocher
  • Lesedauer: 4 Min.

So langsam kehrt wieder Normalität in den österreichischen Alltag zurück - auch den politischen. Doch in welche Richtung soll es mit dem Land nach Corona gehen? Zwischen der Österreichischen Volkspartei und den Grünen entwickeln sich zu dieser Frage bereits jetzt ernste Zerwürfnisse. Nachdem die politisch Verantwortlichen zuletzt aus verständlichen Gründen relativ wenig Zeit für Wadelbeißereien und rhetorischer Abwatschen hatten, scheint es in diesen Tagen so, dass es hier so einiges nachzuholen gibt.

Die Attacken machen deutlich, dass der Haussegen zwischen den Koalitionspartnern ÖVP und Grünen bereits mächtig schief hängt. Schon werden seitens der Konservativen Rufe nach einer Neuverhandlung des erst im Januar geschlossenen Koalitionsabkommens laut. Ausgerechnet bei einem grünen Kernthema solle die Regierung besser Abstriche machen: dem Klimaschutz.

Wie das so ist bei Testballons, ist es auch in der ÖVP die dritte Reihe, die solche steigen lässt. In diesem Fall kam er von Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wallner, der auf Landesebene selbst in einer Koalition mit den Grünen sitzt. In einem Interview mit den »Vorarlberger Nachrichten« sagte Wallner also, er wolle auf Landesebene das Abkommen mit den Grünen neu verhandeln. Nötig machten dies Umwälzungen, die die Corona-Epidemie mit sich gebracht habe. Nach Wallner sind dadurch sinkende Steuereinnahmen zu erwarten. Vor allem aber: Er hat auch einen Ratschlag für die Regierung in Wien. Man solle sich auch dort die Frage stellen, ob das Koalitionspapier noch haltbar ist. Denn nun sei eine neue politische Agenda zu entwickeln.

Und an dieser neuen politischen Agenda scheint die ÖVP auch auf Bundesebene bereits zu feilen. Es fällt auf, dass von dieser Seite zuletzt vermehrt wieder das Thema Asyl und Flüchtlinge lanciert wurde - und das, obwohl alle Grenzen bis auf Weiteres geschlossen sind. Aber es ist eben genau dieses Thema, bei dem der ÖVP die Widerrede der Grünen sicher ist. Und so kam es jetzt zu öffentlichen Kakofonien. Nachdem die ÖVP immer wieder auf den Grenzschutz gepocht hatte, konnte sich Grünen-Chef Werner Kogler etwa durchaus vorstellen, dass Österreich Flüchtlingsfamilien von griechischen Inseln aufnimmt. Und zwar für den Fall, dass es nicht gelingen sollte, in den dortigen Lagern menschenwürdige Bedingungen zu schaffen. Das Nein von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) kam postwendend. Dafür ließ es sich Nehammer nicht nehmen, im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage der liberalen NEOS lang und breit über einen unter der türkis-blauen Vorgängerregierung ausgehandelten Plan zu plaudern, nach dem abgelehnte Asylwerber nach Serbien abgeschoben werden könnten. Ein Plan, der derzeit wegen der geschlossenen Grenzen irrelevant ist und dem Serbien postwendend eine Absage erteilte. Dafür habe das Land keine Kapazitäten. Eine Absage kam natürlich sofort auch vom grünen Koalitionspartner.

Zum anderen Streitpunkt, der Klimapolitik: Im Koalitionsabkommen von Grünen und ÖVP bildet sie den einzigen Bereich, dem die Grünen ihre Handschrift verpassen konnten. Stimmen aus der ÖVP verweisen nun vermehrt darauf, dass man wegen Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft die EU-Klimaziele wohl nicht wie vereinbart umsetzen werden könne. Die grüne Infrastrukturministerin Leonore Gewessler, die vor der Corona-Krise noch als »Superministerin« gehandelt wurde, sieht sich in die Defensive gedrängt. In einem Interview argumentierte sie zuletzt, dass doch »Klimaschutz das beste Konjunkturpaket« sei. Abhängig bei der Finanzierung ihrer Vorhaben - vom Ausbau des öffentlichen Verkehrs über Billigtarife für Fahrgäste bis hin zu einer CO2-Bepreisung und einem Ausbau der erneuerbaren Energien (allesamt investitionsintensive Bereiche) - ist Gewessler aber von Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP).

So wächst der Frust bei den Grünen und es drängt sich für sie zusehends die Frage auf, was man in dieser Koalition überhaupt noch erreichen kann. Zugleich wächst der Ärger über den Koalitionspartner, der mit Themensetzungen vorprescht, die spalten. Folglich sehen viele an der grünen Basis die Koalition bereits am Ende, bevor sie überhaupt dazu kam, ihre Agenda abzuarbeiten. Manche vermuten gar, dass die ÖVP nicht weniger will, als die Koalition zu sprengen. Unter rein machtstrategischen Gesichtspunkten wäre der Zeitpunkt günstig: Laut neuesten Umfragen liegt die ÖVP in der Wählergunst derzeit bei sagenhaften 48 Prozent - das wäre ein Plus von mehr als zehn Prozent zum bereits sensationellen Wahlerfolg bei der Nationalratswahl im September 2019. Die ÖVP kratzt damit an der absoluten Mehrheit.

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