- Politik
- Weibliche Genitalverstümmelung
»Ich habe meiner Tante verziehen«
Am Tag der Genitalen Selbstbestimmung erheben Frauen in aller Welt ihre Stimme gegen die brutale Tradition
»Ich habe ihr verziehen. Was sie getan hat, hat sie in der Überzeugung getan, das Richtige zu tun«, sagt die 39-jährige Kaddy rund 34 Jahre, nachdem ihre Großtante sie verstümmelt hat. In einem kleinem Dorf im Süden Gambias in Westafrika hält sie die schlanke und faltige Hand der Frau, die sie Tante nennt und die ihr kaum erträgliche Schmerzen zugefügt hat und schaut ihr versöhnlich in die von einer Krankheit getrübten Augen.
Dabei kann Kaddy sich noch genau an den Morgen erinnern, an dem sie ihre körperliche Unversehrtheit verloren hat. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie geweckt und aus ihrem Dorf in den Wald geführt wurde. Sie werde jetzt etwas ganz Besonderes, eine tolle Überraschung erleben, sagte ihre Mutter. Nach einem kurzen Fußmarsch erreichten Kaddy und ihre Mutter einen großen Baum. Darunter saßen vier Frauen. In einer erkannte die Fünfjährige ihre Großtante Mariama. Was Kaddy damals nicht wusste: Die alte Frau war schon damals eine berühmte Beschneiderin, hatte bereits ungezählten Mädchen die Klitoris abgeschnitten. Als ihre Großtante ein buntes Tuch auf dem Waldboden ausbreitete, bekam Kaddy Angst.
»Die Frauen spreizten mir die Beine. Sie hielten mir die Arme und die Beine fest. Dann schnitt meine Tante mir mit einer Rasierklinge die Klitoris ab. Es tat wahnsinnig weh. Ich habe mein eigenes Blut gesehen und geschrien«, erinnert Kaddy sich.
Vor allem in 30 afrikanischen, asiatischen und arabischen Ländern werden Mädchen und Frauen beschnitten. Nach Angaben der Vereinten Nationen waren im überwiegend muslimischen Gambia 2015 rund 75 Prozent der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren beschnitten, in manchen ländlichen Gebieten waren es sogar über 95 Prozent. Meist rechtfertigen die Beschneiderinnen den gefährlichen Eingriff mit dem Koran. »Dabei fordert keine einzige Sure der heiligen Schrift des Islams die Verstümmelung der weiblichen Genitalien«, sagt Dr. Idah Nabateregga, Referentin für weibliche Genitalverstümmelung der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes in Berlin.
Als die Blutung nachließ und Kaddy vor Schmerzen beinahe in Ohnmacht gefallen war, musste sie sich auf einen Topf mit heißem Wasser setzen. Anschließend bestrich ihre Tante die Wunde zwischen den Beinen mit einer braunen Tinktur, die sie aus den Blättern des Neem-Baumes gewonnen hatte. Die traditionelle Medizin sollte die Schmerzen lindern und die Blutung stillen. Tatsächlich führt sie nicht selten zu gefährlichen Infektionen.
Doch Kaddy hatte Glück. Ihre Wunde verheilte ohne Komplikationen. Die Schmerzen ließen nach und Kaddy sprach fast 20 Jahre nicht darüber, was ihre Großtante ihr angetan hatte. Kaddy kannte niemanden, der offen über das eigentlich Unaussprechliche sprach. Die alte Tradition in Frage zu stellen, wäre einem Verrat an der eigenen Kultur, am eigenen Glauben, an der eigenen Familie und damit einem Verrat an allem, was in Gambia wichtig ist, gleichgekommen.
In weiten Teilen des Nachbarlandes Senegal ist die Situation ähnlich. Vor 34 Jahren wurde dort der damals vierjährigen Fatou Mandiang Diatta die Klitoris abgeschnitten. Ohne Betäubung. Damals presste die kleine Fatou die Lippen zusammen. Heute schweigt sie nicht mehr, heute schreit sie als Rapperin Sister Fa heraus, was sie wütend macht. In Zusammenarbeit mit Terre des Femmes, World Vision und der Schweizer Hilfsorganisation IAMANEH kämpft die seit 2006 in Berlin lebende Musikerin in ihrer Heimat mit HipHop gegen die blutige Tradition, der im Senegal noch immer viele Mädchen zum Opfer fallen. In einem ihrer Songs geht es um die Schmerzen, die sie selbst als kleines Mädchen ertragen musste. Als einst hilflose, jetzt bemitleidenswerte Betroffene sieht sie sich jedoch nicht. »Ich bin kein Opfer, ich bin eine Überlebende! Ich werde zwar mein Leben lang spüren, dass ich keine vollständige Frau bin, dass da etwas fehlt. Aber meine Musik hilft mir bei der Verarbeitung«, sagt die Rapperin. Am Anfang machte sie Musik, um Musik zu machen. Mittlerweile macht sie Musik, um etwas zu verändern.
»Ich habe eingesehen, dass ich nicht aus dem fernen Berlin kommen kann und den Menschen in meiner Heimat sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. Ich bin reifer und geduldiger geworden. Ich höre den Menschen zu und begleite sie unterstützend in ihrem Kampf für die genitale Selbstbestimmung. Musik ist dabei meine Brücke«, sagt die Mutter von zwei Töchtern am Telefon. Eigentlich wollte sie gerade mit Terre des Femmes als sogenannter Change Agent gegen Beschneidungen in Deutschland kämpfen. Doch wegen geschlossener Grenzen und gestrichener Flüge ist die Aktivistin derzeit in ihrer senegalesischen Heimat gestrandet und treibt jetzt dort ihre Projekte für genitale Selbstbestimmung in 16 Dörfern voran.
Auch in Gambia kämpfen immer mehr Frauenrechtlerinnen, Ärzte und Hebammen dafür, dass Frauen nicht mehr verstümmelt werden. Die vor 35 Jahren beschnittene Kaddy traf sie erstmals, als sie als 23-Jährige in einem Krankenhaus arbeitete. Die Männer und Frauen erzählten ihr, dass die Beschneidungsnarben vielen Frauen während der Menstruation, beim Urinieren, beim Sex und bei der Geburt höllische Schmerzen bereiten, dass weltweit jedes Jahr Tausende Mädchen beim Eingriff verbluten oder Jahre später bei der Geburt an den Folgen sterben. Da die meisten Beschneiderinnen über keinerlei medizinische Ausbildung verfügen, kaum Ahnung von weiblicher Anatomie und Hygiene haben und oft das selbe Messer oder die selbe Rasierklinge verwenden, besteht zudem die Gefahr, dass sie so HIV, Hepatitis und andere Krankheiten übertragen.
Doch Kaddys Großtante will sich nicht kaputtreden lassen, was sie jahrzehntelang getan hat. »Keines der Mädchen, das ich beschnitten habe, ist gestorben oder krank geworden«, sagt Mariama. Sie sagt, dass sie 95 Jahre alt sei und nicht wisse, wie vielen Mädchen sie die Klitoris abgeschnitten habe. Es dürften Tausende gewesen sein.
Vor fünf Jahren gab sie ihren Beruf nach über 50 Jahren auf. Unfreiwillig! Kurz bevor die weibliche Genitalverstümmelung 2015 in Gambia verboten wurde, wurde sie in ihrem Dorf von einer ehemaligen Beschneiderin besucht. Sie kam in Begleitung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von »SOS-Kinderdörfer weltweit«. Gemeinsam erklärten sie Mariama, die nie eine Schule besucht hatte, welche verheerenden gesundheitlichen und psychischen Folgen eine Beschneidung haben kann. »Wir haben die Mädchen beschnitten, um ihre Lust zu kontrollieren. Heute werden die unbeschnittenen Mädchen doch oft viel zu früh schwanger. Sie sind unrein und ihrem Mann oft nicht treu«, sagt Mariama. Dass es keinerlei empirische Belege für die von ihr behaupteten Kausalzusammenhänge gibt, stört sie nicht.
Um zu verhindern, dass Mariama in ihren alten Beruf zurückkehrt, stattete »SOS Kinderdörfer weltweit« die ehemalige Beschneiderin mit einem Startkapital aus. Seitdem arbeitet sie als Salzverkäuferin. Die Geschäfte laufen gut, sagt Mariama. Allerdings macht sie keinen Hehl daraus, dass sie nicht aus Überzeugung, sondern aus Zwang ihren alten Beruf aufgegeben hat und dass sie das neue Anti-Beschneidungsgesetz für einen Fehler hält.
Als Aktivistin und Frauenrechtlerin hat Isatou Touray jahrzehntelang für genau dieses Gesetz gekämpft. »Wer wie ich selbst Opfer dieser grausamen Tradition geworden ist, weiß, dass es sich dabei nicht nur um einen harmlosen Schnitt handelt. Es geht um nichts anderes als die Verstümmelung eines weiblichen Organs. Es ist der Versuch der männlichen Kontrolle des weiblichen Körpers und der Unterdrückung der weiblichen Sexualität«, sagt die Feministin, die seit zweieinhalb Jahren Vizepräsidentin ihres Landes ist. In ihrer neuen Position, will sie dafür sorgen, dass in Gambia keine Mädchen mehr beschnitten werden.
Sicher ist das keineswegs. Denn im westafrikanischen Land gibt es viele Frauen wie die 95-jährige Mariama. Sie sagt trotzig: »Wenn sie das neue Gesetz zurückziehen, würde ich morgen wieder anfangen. Ich weiß noch genau, wie es geht. Ich bereue nichts.« Doch sie weiß auch: Sollte sie je wieder zur Rasierklinge greifen, würde Kaddy ihre eigene Großtante bei der Polizei anzeigen. Kaddy: »Sie weiß jetzt, dass es verboten ist. Es gibt keine Ausrede mehr!«
Die Recherche unseres Autors wurde von »SOS-Kinderdörfer weltweit« unterstützt
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