Drei Quadratmeter Schande

EU-Parlamentarier Erik Marquardt zur Situation in griechischen Flüchtlingslagern

  • Fabian Hillebrand
  • Lesedauer: 6 Min.

Sie waren mehrere Wochen auf Lesbos. Welchen Eindruck hatten Sie, als Sie von Griechenland nach Deutschland zurückkehrten?
Man hat schon gemerkt: Deutschland geht verhältnismäßig locker mit der Corona-Situation um. Hier ist das Leben ja doch noch halbwegs intakt, in Griechenland musste man den Behörden Bescheid geben, wenn man vor die Tür geht.

Wie ist die Situation in den Flüchtlingslagern? Konnten Sie während der Pandemie überhaupt hinein?
Die griechischen Behörden haben in den letzten Monaten große Probleme gemacht, wenn man sich den inneren Bereich des Flüchtlingslagers Moria anschauen wollte. Der Zutritt wird Politikern wie Journalisten erschwert. Es gibt immer eine Ausrede: Früher war es die große Arbeitsbelastung, jetzt ist es Corona. Natürlich ist es wichtig, während dieser Pandemie Schutzmaßnahmen einzuhalten, die Krankheit nicht in die Lager zu tragen. Aber ob zentrales Mittelmeer oder griechische Flüchtlingslager - die Situation sollte für die europäische Öffentlichkeit einsehbar sein. Am Ende kommt man dann doch immer irgendwie in die Lager rein. Ich denke, weil auch die griechischen Behörden da verschiedene Interessen haben. Sie wollen die miserable Situation verstecken, aber das Leid, das sich daraus ergibt, auch zur Abschreckung nutzen.

Im Interview

Erik Marquardt sitzt für die Grünen im EU-Parlament. Als Politiker und Fotograf besuchte er mehrere Flüchtlingslager an den europäischen Außengrenzen. Über die Lage in Moria sprach mit ihm Fabian Hillebrand.

Wie sieht es in Moria aus?
Für den Kernbereich in der Mitte des Camps braucht man eine offizielle Genehmigung zur Besichtigung. Aber die allermeisten, ich würde schätzen mindestens 15 000 von den 20 000 Menschen, die in Moria leben, leben in den Olivenhainen um das Camp herum. Neben ausgetrampelten Pfaden stehen dort Zelte und Hütten. Teilweise sind die Hütten keine drei Quadratmeter groß. Da wohnen dann eine Mutter und ihre zwei Kinder. Über den Hütten hängen Planen, die vor Regen schützen sollen. Im Sommer ist die Situation erträglicher, im Winter ist es die Hölle. Überall Matsch, es schneit und die Menschen frieren. Es ist wirklich eine Schande, dass wir so eine Situation in Europa zulassen. Das krasse ist ja: Das ist nicht die Ausnahme, sondern die Folge eines europäischen Asylsystems, das Leute dort jahrelang ausharren lässt, bis geprüft wird, ob sie schutzbedürftig sind. Unter den Augen der europäischen Öffentlichkeit ist dort ein riesiger Slum entstanden. Das sind natürlich ideale Bedingungen für eine Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Gerade gibt es aber noch keine Coronafälle auf Lesbos.

Was aber wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit ist.
Man kann davon ausgehen, dass auch die Inseln am Ende nicht verschont bleiben. Darauf sollten wir uns vorbereiten. Seit Monaten diskutieren wir in Europa darüber, wie man die Menschen in diesen Lagern schützen kann. Trotzdem gibt es neben vagen Ankündigungen keine relevanten Ergebnisse. Vor Ort sehen wir mehr Probleme als Lösungen. Dabei läuft die Zeit gegen uns.

Die Menschen in den Camps haben keinen Zugang zu irgendeiner Form von Gesundheitsversorgung?
Nun, es gibt durchaus vereinzelte Angebote, vor allem Ehrenamtliche, die ihr Bestes geben, um dort irgendeine Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Aber das reicht eben nicht für alle. Trotzdem ist es so, dass die Menschen dort gegenseitige Hilfe leisten. Das sind nicht einfach Opfer, die im Schlamm herumsitzen und auf Hilfe warten.

Es gibt Menschen, die dort sauber machen, die aufräumen. Menschen, die Flyer drucken, um überhaupt auf die Gefahr durch Corona aufmerksam zu machen. Ich habe dort einen Zahnarzthelfer getroffen, der sich um die Zähne der Menschen gekümmert hat. Da wird Rechtshilfe geleistet. Von dieser Solidarität und Selbstorganisation hört man leider viel zu wenig.

Wie hoch stehen die Chancen, dass die deutsche Bundesregierung die Menschen dort herausholt?
Nicht sehr hoch. Seit Jahren versagt die Bundesregierung dabei, klarzumachen, dass das Grundrecht auf Asyl nicht irgendeine Verhandlungsmasse ist. Es kommen ja kaum noch Menschen nach Deutschland. 2017, 2018 und auch 2019 hatten wir weniger Ankünfte in Europa als 2014. In dieser Situation ist es eigentlich absurd, dass man sich den Rechten so ergibt, dass man so tut, als sei jeder einzelne Geflüchtete, der den Weg nach Deutschland findet, ein Versagen der Asylpolitik. Da werden Grundsätze der Verfassung über Bord geworfen. Um eine andere Asylpolitik zu fordern, muss man kein linker Utopist mehr sein, sondern nur noch jemand, der den Rechtsstaat verteidigt. Jeder Mensch muss die Chance haben, dass sein Asylgrund geprüft wird. Aber anstatt dass sich unsere Politik an solchem substanziellen Recht orientiert, wird nur in Exceltabellen gerechnet, wie man die Ankunftszahlen senken kann. Es ist schon willkürlich, wie Regierungen, insbesondere jetzt in der Corona-Zeit, mit der Rechtsstaatlichkeit umgehen.

Zum Beispiel, indem Helfer auf dem Mittelmeer blockiert werden. Vor fünf Jahren wurde der Verein Sea-Watch gegründet, die Geburtsstunde der zivilen Seenotrettung. Wie steht es heute um sie?­
Es ist schon tragisch, wie erfolgreich man es in der Europäischen Union schafft, zu vertuschen, wie katastrophal die Situation in Libyen eigentlich ist. Menschen werden in Lagern gefoltert, da tobt ein Bürgerkrieg, dessen Ende nicht absehbar ist. Die Leute kommen nicht nur über Libyen, sie fliehen von dort. Und trotzdem arbeitet man lieber mit libyschen Milizen zusammen als mit zivilen Seenotrettern. In der Coronakrise haben nun Italien und Malta gesagt, sie seien keine sicheren Häfen mehr. Als könne man diese paar Menschen von den Rettungsschiffen nicht mehr unterbringen.

Das deutsche Innenministerium schrieb jüngst einen Brief an die Seenotretter, mit der Bitte, die Rettungen in der Coronakrise einzustellen. »nd« veröffentlichte diesen Brief.
Ja, das müsste eigentlich eine Welle der Empörung auslösen, dass die deutsche Bundesregierung Hilfsorganisationen, die ja von den Corona-Maßnahmen üblicherweise ausgenommen sind – pauschal sagt, sie sollen aufhören, Menschen zu retten. Europa ist in der Coronakrise erschreckend bereit dazu, Grenzüberschreitungen in Kauf zu nehmen. Werte und Grundrechte werden aufgegeben, um zu verhindern, dass Menschen auf der Flucht in Europa ankommen.

Wie fern von irgendeiner demokratischen Haltung ist es denn, wenn man Seenotretter, die regelmäßig Menschen vor dem Ertrinken retten, darum bittet, ihre Arbeit einzustellen? Das würde niemals so passieren, wenn es darum ginge, Schweden oder Briten zu retten. Wie kann man nur so empathielos sein mit Menschen, die eine andere Hautfarbe haben? Ich habe manchmal keine Worte mehr für das, was gerade passiert. Horst Seehofer, dessen Innenministerium einen solchen Brief schreibt, sollte doch einfach mal bei den Menschen auf den Flüchtlingsbooten anrufen, und ihnen vermitteln, dass sie nun leider ertrinken müssen, weil sie sonst wegen Corona in eine schwierige Situation kommen könnten. Das ist ja die Logik, die dahinter steckt.

Eine der Organisationen, die diesen Brief erhalten hat, ist trotzdem auf das Mittelmeer gefahren.
Ja, und Sea-Eye hat mit der »Alan Kurdi« 183 Menschen gerettet. Einfach nur, weil man sich nicht an den Brief gehalten hat, den das Bundesinnenministerium geschickt hat. Nun müsste eigentlich Horst Seehofer zu jedem Einzelnen, der in Seenot war, hingehen und sagen: Es tut mir leid, dass dieser Brief geschrieben wurde, natürlich hätte ich mir nicht ausmalen können, dass sie jetzt doch gerettet werden können. Das ist so ein toller Erfolg. Und dann sollte er den Helfern das Bundesverdienstkreuz umhängen.

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