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Streiken und Gedenken
Weil in Deutschland immer noch Nazis morden, war der 8. Mai für migrantische Organisationen in Köln und bundesweit nicht nur ein Tag der Befreiung, sondern auch ein Tag des Zorns.
»Heute ist der Tag der Befreiung von Faschismus, aber uns ist nicht nach feiern zumute. Wir stehen hier für unsere ermordeten Geschwister und alle Opfer rassistischer Gewalt.« In der Florastraße in Köln-Nippes stehen acht Menschen auf einem Platz, vor einem Blumenladen im Kreis. Seit dem rassistischen Terroranschlag in Hanau im Februar 2020 organisieren sie sich in einer Migrantifa-Gruppe. Amira ruft ihren Mitstreiter*innen zu: »Ferhat Unvar«. Die anderen tun es ihr nach: »Ferhat Unvar«. Das wiederholen sie mit Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kalojan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu. Es sind die Namen der Opfer von Hanau.
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Über eine Stunde laufen sie so durch Nippes, stellen sich an verschiedene Plätze, ziehen sowohl die Blicke auf sich, als auch rassistische Anfeindungen. Mitten in einer Einkaufsstraße in Nippes stehen sie sich gegenüber, rufen sich wieder die Namen zu. Eine Frau geht vorbei, beleidigt sie rassistisch. Eine Freundin von Amira ruft ihr zu: »Wir stehen wegen Leuten wie Ihnen hier. Deutschland wurde nie entnazifiziert.« Passanten laufen weiter als wäre nichts passiert. Amira und ihre Freunde diskutieren kurz darüber. »Komm, lasst uns auf unsere Aktion fokussieren. Dafür sind wir hier«, sagt Amira. Ihre Freundin meint: »Ja, diese Beleidigungen sind eigentlich nichts Neues, aber wenn die Namen von Toten verlesen werden, ist das was anderes«. Als sie sich auf den Weg zum Kundgebungsort machen, läuft ihnen plötzlich ein Mann hinterher. Er ruft nach ihnen: »Ihr wart so schnell weg. Ich wollte nur sagen, dass ich das total schön und wichtig finde«, sagt der Mann und geht wieder. Amira und die anderen freuen sich: »Das berührt die Leute emotional. Bei großen Kampagnen geht oft das Zwischenmenschliche verloren«, sagt sie.
Seit dem 1. Mai führt die Migrantifa NRW täglich Aktionen durch. Ihren Höhepunkt hat die Kampagne in einem Generalstreik zum Tag der Befreiung am Wilhelmplatz in Köln-Nippes. Bis zu 50 Menschen dürfen nach Auflagen der Stadt Köln an der Kundgebung teilnehmen. Es sind nie weniger als 150, die sich den Platz dennoch mit jeweils 1,5 Metern Abstand teilen. Amira sitzt auf den Treppen einer Vorhalle, von der aus die Kundgebung beschallt wird. Warum sie am Tag der Befreiung streiken? »Klar feiern wir die Befreiung vom Faschismus, aber wir nehmen täglich Gewalt gegen uns wahr. Deshalb können wir als BiPoC, Migras, Juden, Sinti*ze und Romn*ja nicht wirklich feiern«, sagt sie. Der Tag sei ein Streiktag, um zu zeigen: »Wenn wir als Kanaks, als Unterdrückte streiken, steht Deutschland still.«
Auf die Wand der Vorhalle haben sie Plakate geklebt: »75 Jahre sind nicht genug, Entnazifizierung jetzt.« Davor haben sie das Konterfei der Opfer von Hanau plakatiert. »In unseren Kreisen hat Hanau eine tiefe Wunde gerissen. Es ist, als wären wir in einem Strudel gefangen. Einerseits müssen wir was machen, andererseits denken wir uns ständig ‚bitte nicht schon wieder‘.« Dass sich die Migrantifa NRW organisiert hat, hat auch mit der Dynamik der Demo der Angehörigen im Anschluss an den Anschlag in Hanau zu tun: »Uns hat die Rede der Ramazan Avcı Initiative unmittelbar nach dem Attentat sehr berührt. Da wurde das ausgesprochen, was wir untereinander schon lange sagen. Dass wir als diskriminierte, unterdrückte, von Rassismus betroffene Menschen selbst Forderungen stellen müssen.«
Die ganze Woche waren sie aktiv, plakatierten, malten Graffiti und demonstrierten spontan vor einer Polizeiwache in Essen gegen rassistische Polizeigewalt (»nd« berichtete). 15 Minuten entfernt vom Wilhelmplatz, am Parkgürtel war die Kundgebung ursprünglich geplant. Dort entstand am Tag vorher ein Graffito, das die Gesichter der Opfer von Hanau und das des 15-jährigen Arkan Hussein Khalaf zeigt, der im April von in Celle ermordet wurde. Im Anschluss an die Kundgebung laufen viele Menschen zum Graffiti, um dort Rosen und Kerzen abzulegen und zu gedenken.
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