Halbgötter in Staubgrau

Die erste Staffel der britischen Serie »Temple« ist in jeder Sekunde anders als im sogenannten Arztserien-Genre üblich

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Daniel und Jamie könnten kaum verschiedener sein. Der eine ist ein angesehener Chirurg im Herzen Londons, der andere ein desperater Ganove am verwahrlosten Stadtrand. Die Wege der beiden in der Stadt würden sich also kaum jemals kreuzen - im Untergrund der glitzernden Metropole hingegen geschieht das schon. Fünf Tiefgeschosse abseits aller Blicke betreibt Daniel eine Geheimklinik für Unversicherte, Ausgestoßene, Illegale. Jamie landet mit Schusswunden, die er sich bei einem missglückten Geldraub zugezogen hat, auf Daniels dreckigem OP-Tisch und überlebt nur dank dessen selbstloser Hilfe.

So weit, so ritterlich. Denn wäre der hippokratische Altruismus alleiniger Inhalt der Serie »Temple« - die Eigenproduktion des Bezahlsenders Sky bliebe vergleichsweise unauffällig unter den erfolgreichen Arztserienformaten. Auf Basis des norwegischen Vorbilds »Valkyrien« allerdings schickt dieses Drama seinen Mediziner zügig auf eine Abenteuerreise durch Londons Underground, an der mal gar nichts so seifig ist wie im Genre üblich.

Daniel Milton (Mark Strong), das zeigen ständige Rückblenden aufs gut situierte Chirurgendasein vorm Abtauchen unter die U-Bahn-Station mit dem titelgebenden Namen, widmet sich nicht aus reiner Barmherzigkeit dem Leid der Entrechteten. Da seine unheilbar kranke Frau Beth (Catherine McCormack) vom Kollegium ihres gemeinsamen Arbeitgebers aufgegeben wird, täuscht er ihr Begräbnis vor, kündigt ostentativ den Job und beschäftigt sich fortan mit der gesetzwidrigen Erprobung eines Heilmittels im Selbstversuch.

Wie er dabei auf das verzweigte Tunnelsystem zwischen Himmel und Hölle der Hauptstadt gestoßen ist, warum ihm sein hemdsärmeliger Assistent Lee (Daniel Mays) seither missmutig, aber uneigennützig zur Hand geht, weshalb mit der Zeit immer mehr Geflüchtete, Verbrecher, Obdachlose und andere Minderheiten der Mehrheitsgesellschaft die Klinikbetten im Kunstlicht bevölkern - all dies klärt sich (hoffentlich) erst im Laufe der acht Folgen. Schon zu Beginn aber wird klar, dass hier nicht bloß Einzelschicksale aneinandergereiht, sondern diverse Themen zu einer hochkomplexen Serie verknüpft werden.

Die charakterlich oftmals robuste Klientel ist schließlich nicht immer kooperativ, und medizinisches Gerät ist bis hin zur Blutkonserve nur ungesetzlich zu kriegen. Die rund zwei Millionen Pfund des schwer verletzten Bankräubers Jamie könnten diesbezüglich zwar helfen, aber auch dessen vier Komplizen suchen bald fieberhaft nach ihrer Beute, von der Polizei ganz zu schweigen.

Und als Beths Ex-Kollegin (sowie Daniels Ex-Geliebte) Anna unfreiwillig ins Hilfsprojekt einsteigt, wird die Kriminalgeschichte des Vaters einer pubertierenden (und sehr neugierigen) Tochter auch noch um ein Familiendrama erweitert.

Besonders dieser Aspekt böte reichlich Anlass zur Sorge vor Verseifung - käme die Serie nicht aus Großbritannien. Schon deshalb ist alles daran besser, als es ein deutsches Fernsehprodukt jemals zu leisten imstande wäre. Es beginnt damit, dass der Hauptdarsteller Haarausfall haben darf und auch sonst kein Charakter nach optischen Kriterien besetzt wurde. Es geht weiter damit, dass die Dialoge meist wie vom Alltag abgefilmt wirken und die Kulissen bis ins kleinste Detail authentisch sind. Und es endet noch lange nicht damit, dass Dramatik, Atmosphäre und Inhalt niemals selbstreferenziell daherkommen und dass der Sound dazu von einer Funktionalität ist, die niemals Aufmerksamkeit einfordert und gerade deshalb tief ins Unterbewusstsein dringt.

Der einzige Manierismus, den sich die Macher von »Temple« leisten, ist Lees Kleintransporter, auf dessen Dachgepäckträger fast jede Kamerafahrt durch London beginnt. Selbst das unterstreicht aber eher den klandestinen Humor einer Produktion, deren Halbgötter schon wegen all des getrockneten Bluts auf dem Hemd nicht allzu weiß sind. Eher ein bisschen staubgrau. Und dennoch sehr ansehnlich.

Die erste Staffel ist auf Sky zu sehen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.